Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen. Stephan Waldscheidt

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Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen - Stephan Waldscheidt

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sie wieder zu sich kommt, liegt Carla tot vor ihr, sie selbst hat einen Stein in der rechten Hand, der vor Blut und anderen unschönen Substanzen klebt. Helen ist, was Wunder, überzeugt, sie wäre die Mörderin, zumal niemand anderes in der Nähe war oder auch nur wissen konnte, dass die beiden Frauen um diese Zeit in dieser Gegend unterwegs sein würden. Voller Panik versucht Helen, Carlas Leiche verschwinden zu lassen. Helen kann sie aber nur ein paar Meter bis zu einer Straße schleppen – wo ein Lkw herangedröhnt kommt, bremsen muss und die Tote unter einer Ladung Steine vergräbt.

      In vergleichbaren Romanen wäre dieser Mord das auslösende Ereignis. In seiner Folge, im ersten Akt, würde die Heldin nun Informationen sammeln, die sie bald davon überzeugen, dass sie nicht die Mörderin sein kann. Die Entscheidung, ihre Unschuld zu beweisen, könnte der erste Plotpoint sein, die Suche nach dem wahren Mörder könnte im Midpoint beginnen.

      Joanna Hines geht es um etwas anderes. Ihr ist die psychologische Seite ihrer Heldin Helen wichtiger als die Auflösung des Mordes. Statt Helen vor der Justiz fliehen zu lassen (wie etwa im Filmklassiker »Auf der Flucht« mit Harrison Ford und Tommy Lee Jones), lässt Hines sie ungeschoren davonkommen. Helen kann glaubhaft vorbringen, sie wäre woanders gewesen. Der Fall wird eingestellt, Carlas Tod als Unfall deklariert.

      Der Großteil des Buchs widmet sich fortan Helen und ihrer Flucht vor ihren inneren Dämonen. Eine Flucht, die, wie sie bald erkennt, hoffnungslos ist. Während ihr Leben aufgrund ihrer Schuldgefühle immer unerträglicher wird, versucht sie, mehr über diese Urlaubsbekanntschaft herauszufinden, lernt ihre Familie und Freunde kennen.

      An Helens Überzeugung, dass sie die Mörderin ist, hat sich trotz all dem nichts geändert. Erst am Ende des zweiten Akts findet sie heraus, dass sie wahrscheinlich doch nicht die Täterin sein kann. Und erst jetzt beginnt das, was für gewöhnlich dem zweiten Akt vorbehalten wäre: Helen sucht den wahren Mörder.

      Was die Autorin hier tut, funktioniert – in diesem Roman. Auch wenn es nicht wirklich überzeugend funktioniert. Das ist aber weniger der mutigen und außergewöhnlichen Konstruktion zuzuschreiben, sondern eher dem Umstand, dass in einem Großteil des Romans wenig geschieht und vor allem die Spannung nur sehr, sehr vage spürbar ist. Präsent aber ist sie, denn als Leser hat man seine Zweifel an Helens Vermutung, wie ihr Mord an Carla abgelaufen ist.

      Für Sie heißt das zweierlei: Wagen Sie sich auch mal an weniger ausgetretene Konstruktionen. (Obwohl ich das für Ihr Erstlingswerk nicht unbedingt empfehlen würde.) Und wenn Sie das tun, sorgen Sie für Subspannung, will heißen: Verlassen Sie sich nicht ausschließlich auf die Überzeugungskraft Ihres zentralen Plots. Bauen Sie vielmehr Subplots ein, die in sich für Spannung sorgen, auch dann, wenn diese im zentralen Plot – der Konstruktion geschuldet – etwas in den Hintergrund tritt.

      Dem Leser ist es letztlich egal, woher die Spannung kommt. Hauptsache, sie kommt.

      Und: Selbst wenn Ihr Roman ein »psychologischer« sein sollte, so vergessen Sie dennoch die Handlung nicht!

      Hines’ Roman hätte eine Heldin mit einem interessanteren Innenleben gebraucht. Helen ist sehr durchschnittlich. Was dem Leser hilft, sich mit ihr zu identifizieren. Und eine Identifikation ist in diesem Roman zentral: Nur so können die Leser den Gedankengängen der Heldin folgen und auch ihre Ängste und Verdächtigungen nachvollziehen.

      Dann aber zwingt die Autorin den Leser dazu, sich sehr lange und sehr intensiv mit dem Innenleben der Heldin auseinanderzusetzen. Dafür ist es wiederum nicht aufregend und abwechslungsreich genug.

      Ein guter Roman ist ein fein austariertes Gebilde. Wenn Sie irgendwo von der klassischen »Formenlehre« der Romanstruktur oder der Charakterzeichnung abweichen, sollten Sie das an einer anderen Stelle ausbalancieren.

      In unserem Beispiel heißt das: Wenn Sie an einem Ende etwas überziehen – wie hier die Konzentration auf die Psychologie der Heldin Helen –, sollten Sie das an einem anderen Ende ausgleichen.

      Doch um dieses Austarieren überzeugend hinzubekommen, sollten Sie den »Idealzustand« – eben den klassisch strukturierten Roman und seine Anforderungen – kennen und zumindest einigermaßen beherrschen. Und dieses Beherrschen müssen Sie trainieren. Etwa indem Sie einen so strukturierten Roman schreiben.

      Die Regelbrüche? Die heben Sie sich für später auf. Dann gelingt Ihnen auch damit ein verdammt guter Roman.

      Was Apple, Google, Facebook und Amazon wirklich wollen — Konkrete Ziele im Roman

      Gut schreiben und erzählen zu können, hilft nicht nur beim Schreiben und Erzählen. Es macht auch manches im Leben besser erkennbar. Kurzum: Schreiben macht schlau.

      Ja, auch Sie.

      Das ist mir beim Lesen eines Artikels in der ZEIT aufgefallen.* In »Warum protestiert ihr nicht?« (DIE ZEIT Nr. 32, 2. August 2012) erklärt der Schriftsteller Benjamin Stein die sorglose Haltung gegenüber den dubiosen Arten, mit Daten seiner Kunden und mit den Kunden selbst umzugehen, die Weltmächte wie Facebook, Apple, Amazon und Google pflegen (die Daten, nicht unbedingt die Kunden).

      Erstaunlich ist, wieso das für die Journalisten Evelyn Finger und Thomas Fischermann, die in dem Interview die Fragen stellen, anscheinend vollkommen unklar ist. Vermutlich schreibt keiner von ihnen Romane. Stein sagt:

       Das konkrete Glücksgefühl im Netz erscheint ihnen größer als die imaginäre Gefahr. Den Nutzen können sie fassen, die Schranken sehen sie nicht.

      Sprich: Konkreter Nutzen in der Gegenwart schlägt abstrakte Gefahren in der Zukunft. Das ist genau wie beim Rauchen: »Ist vermutlich irgendwie ungesund, vielleicht aber auch nicht und vielleicht nicht für mich. Ganz sicher tun mir jetzt zwei Minuten Nikotin gut.« Nein, vermutlich ist das Diffuse noch diffuser oder wird komplett ausgeblendet.

      Übersetzt in die Sprache des Erzählens jedenfalls heißt das: Konkret schlägt abstrakt.

      Nehmen wir als Beispiel einen vollkommen fiktiven Internetkonzern namens Froopple als die böse Macht in einem Roman. Täte Froopple dasselbe wie Google oder Apple, hätten wir keinen Roman. Der Grund: Niemand weiß so genau, was diese Konzerne wollen, außer, Ihre Aktionäre reich zu machen. (Ist ja auch okay.)

      Im Roman aber sollte der böse Konzern Froopple etwas Konkretes zum Ziel haben. (Nein, die Weltherrschaft ist ebenfalls nichts Konkretes.) Sagen wir, Froopple will jedem Menschen einen Chip ins Hirn pflanzen und seinen Dienst BrainViewTM zur Standardsoftware für sieben Milliarden Menschen machen. Froopples Hintergedanke: Mit dem Chip lassen sich die Menschen steuern und werden drei Mal täglich dem Chef von Froopple auf Knien huldigen. (Zugegeben, ein idiotisches Ziel, aber wer sagt, dass gewaltige Macht nur von intelligenten Leuten ausgeht?)

      Der Vorteil konkreter Ziele sowohl beim Helden wie auch beim Gegenspieler: Sie lassen sich leicht vom Leser auf Erreichen oder Nicht-Erreichen prüfen. Der Leser sollte jederzeit abschätzen können, wie nahe Held oder Schurke seinem Ziel ist.

      Schreibtipp am Wegesrand: Dieses Abschätzen bietet Ihnen eine gute Gelegenheit, den Leser in die Irre zu führen. Das Ziel scheint für Ihre Heldin zum Greifen nah! Doch, ätsch, Irrtum, da kommt noch eine Biegung und noch ein Hindernis und das ist größer als alle anderen.

      Entscheidend bei der Konkretisierung eines Romanziels ist: Machen Sie dem Leser unmissverständlich klar, was dieses Ziel ist.

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