Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen. Stephan Waldscheidt
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Auf diese Weise haben Sie bald den ersten Entwurf einer Outline des Romans, Ihren Plotfahrplan. Aber noch einmal: Lassen Sie sich Zeit dabei. Ich weiß, dass einen die Muse juckt, und will, dass man schreibt, den eigentlichen Romantext produziert. Tun Sie ihr den Gefallen, wenn es gar nicht mehr anders geht – aber schreiben Sie den Text schon in dieses Knochengerüst hinein.
Überarbeiten Sie alles so lange, bis die Struktur funktioniert.
Wenn Sie mögen, zeigen Sie die Struktur einem professionellen Leser, also einem Lektor, Ihrem Agenten, einem Autor. Diskutieren Sie darüber.
Oder, wenn Ihnen das nicht liegt, legen Sie gleich los mit dem Schreiben. Sie werden feststellen, wie viel schneller Sie vorankommen. Sie werden neue, bessere und deutlich mehr Ideen haben als ohne Planung – nutzen Sie die Ideen, aber nutzen Sie sie weise. Wenn etwas Ihren Plot komplett umzuwerfen droht, sollte es dafür einen verdammt guten Grund geben.
Schreiben Sie mit Ihrem Herzen, Ihrem Bauch, Ihren Geschlechtsorganen und überarbeiten Sie mit Ihrem Kopf.
Viel Vergnügen und viel Erfolg.
Wie dumm darf Ihre Heldin sein? — Warum ein plotgetriebener Roman scheitert – und wie Sie ihn retten
Romane, die vom Plot her gedacht und entwickelt wurden und vom ihm getrieben werden, funktionieren anders als Romane, die die Charaktere von Protagonist und Antagonist als Ausgangspunkt nehmen. Plotgetriebene Romane sind häufig komplexe und wendungsreiche Thriller wie Schätzings »Der Schwarm« oder Dan Brownes »Sakrileg«.
Sie scheitern auch anders.
Woran erkennen Sie einen plotgetriebenen Roman? Häufig an flachen und klischeebehafteten Figuren. Von Nachteil müssen solche Charaktere nicht sein. Der Roman kann dennoch ganz im Sinne des Autors funktionieren – falls es ihm vor allem darum geht, einen cleveren Plot von Anfang bis Ende durchzuziehen.
Ein klassischer und oft sehr folgenschwerer Fehler im plotgetriebenen Roman: Die Charaktere tun Dinge, die ihrem Wesen nicht nur nicht entsprechen, sondern ihm komplett zuwiderlaufen. Die Ursache: Die Eigenschaften der Charaktere werden vom Autor nur behauptet, nicht aber bewiesen – er erzählt sie dem Leser, aber er zeigt sie ihm nicht.
Kai Hensel hat mich mit seinem Thriller »Das Perseus-Protokoll« (Frankfurter Verlagsanstalt 2012) bis zum Ende bei der Stange gehalten. Allein durch den Plot. Doch weil insbesondere die Heldin Maria Brecht sich einige grobe Hämmer erlaubte, wurde mein Lesegenuss arg beeinträchtigt.
Die als Touristin nach Griechenland gereiste deutsche Elite-Studentin wird in ein Komplott zwischen Terror und Finanzkrise verwickelt – ein aktuelles Thema, spannend inszeniert.
Gegen Ende des Romans deckt sie einen geplanten Bombenanschlag auf – und begeht für mich einen massiven Fehler. Weil der Plot (= der Autor) es so will, es ihrem Charakter aber auf unglaubhaft massive Weise widerspricht.
Sie hat ein Beweismittel, einen Metallkoffer, in einem Müllcontainer gefunden. Statt unverzüglich die Polizei in Deutschland oder zumindest die deutsche Botschaft zu verständigen, wozu sie reichlich Zeit und Gelegenheit hätte (die griechische Polizei sucht gerade nach ihr), irrt sie verwirrt durch die Straßen. Statt den Koffer mitzunehmen, lässt sie ihn einfach im Müll. Statt direkt etwas zu unternehmen (die Zeit drängt!) geht sie erst einmal schlafen, in einem Versteck bei flüchtigen Bekannten.
Sie musste klar denken, Schritt für Schritt. In dem Metallkoffer, versteckt im Dromedar, war das Gift aus Libyen gekommen. (…) Es bedeutete, der Anschlag würde mit großer Wahrscheinlichkeit morgen stattfinden. Wo? Gegen wen? Sie hatte keine Ahnung. (…) Dachte sie logisch? So logisch wie sie konnte zwischen Müll- und Chlordämpfen.
Der Autor versucht mit dieser Verwirrung, diese reichlich unglaubhafte Inaktivität der Heldin zu rechtfertigen. Mit anderen Worten: Er presst sie in seinen Plot. Und schadet dem Plot damit letztlich nur. Der Heldin und dem Lesegenuss sowieso.
Eine Heldin sollte die meiste Zeit an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit agieren, sowohl physisch wie auch psychisch. Ansonsten bekommt der Leser das Gefühl, sie strenge sich nicht genug an, was wiederum zu dem Schluss führt, dass die Sache ja wohl nicht sonderlich wichtig sein kann, was wiederum dazu führt, dass der Leser sich fragt, warum er sich für die Geschichte interessieren solle, wenn sich nicht mal die Heldin daran interessiert zeigt.
Je mehr die Geschichte voranschreitet und eskaliert, desto entscheidender wird dieses Agieren am Rande der Möglichkeiten. Im Höhepunkt muss die Heldin (wie sonst nur bei Germany’s Next Topmodel) buchstäblich alles geben.
Noch schlimmer wird es, wenn die Heldin dann ganz und gar nicht so handelt, wie sie es – nach ihrer Einführung – tun müsste. Denn Maria Brecht ist nicht dumm, was eine vom Leser akzeptierte Entschuldigung sein könnte. Im Gegenteil, sie ist eine Elite-Studentin mit erstaunlichen geistigen wie körperlichen Fähigkeiten, unter anderem hat sie den schwarzen Gürtel in Karate. Doch diese Fähigkeiten spielt sie nicht aus. Der Plot lässt ihr keinen Raum und macht sie dadurch kaputt. Sie kann ihre Fähigkeiten nie zeigen, also nie beweisen – also besitzt sie sie für den Leser nicht. Der Autor hat das eingangs lediglich erwähnt, um den Charakter der Maria Brecht interessanter zu machen.
Dass die Heldin am nächsten Tag und einige Seiten weiter dann doch auf die Idee kommt, die Botschaft zu verständigen, hilft ihr und hilft dem Roman nicht mehr. Das kommt viel zu spät.
Wie Sie gesehen haben, sind im Falle des Scheiterns, ironischerweise, häufig die Charaktere Schuld. Für die Autoren unter Ihnen, die eher plot-orientiert schreiben, heißt das: Gehen auch Sie sorgfältig mit Ihrem Personal um, sprich: Behandeln Sie die Charaktere nicht wie Marionetten, sondern lassen Sie ihnen – innerhalb des Rahmens, den Sie mit dem Plot vorgeben – zumindest so viel Raum, dass sie glaubhaft und überzeugend agieren können.
Behaupten Sie die für den Roman wichtigsten Eigenschaften ihres Personals nicht nur, sondern zeigen Sie sie: in Aktion, bildhaft und emotional.
Dann vermeiden Sie, dass Ihre Heldin unlogisch oder unglaubhaft handelt oder sogar dumm auf den Leser wirkt. Mit dummen Charakteren identifiziert sich kein Leser, er fühlt auch kaum mit ihnen mit!
Sie vermeiden so auch, dass der Leser irgendwann, trotz der Faszination, die der Plot auf ihn ausüben mag, die Geduld mit der Heldin (und dem Autor) verliert und das Buch weglegt oder, genauso schlimm, kein weiteres Buch von Ihnen mehr lesen wird.
Was für einen Autor das ultimative Scheitern bedeutet.
Die improvisierende Mörderin — Erfolgreich mit Erzählregeln brechen
Eine der unverbrüchlichen Regeln des Romanhandwerks heißt: Im ersten Plotpoint am Ende des ersten von drei Akten verpflichtet sich der Held dem zentralen Problem des Romans. Kein Weg zurück. Die Entscheidung stößt den Helden in den zweiten Akt, ins Muskelfleisch des Romans.
Joanna Hines hat in ihrem Roman »Improvising Carla« (Simon & Schuster 2001 / keine deutsche Ausgabe) mit dieser Regel gebrochen. Ihre Heldin Helen lernt im Urlaub auf einer griechischen Insel eine Frau kennen und freundet sich mit ihr an. Nach einer durchzechten Nacht gehen beide zusammen vom Apartment zweier Bekannter durch ein Waldstück zurück zu ihrem Hotel. Sie geraten in Streit,