Worin besteht mein Glaube. Лев Толстой
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Nirgends aber ist die Rede von menschlichen Einrichtungen, von Gerichten oder von den Beziehungen dieser Gerichte zu dem Verbote des Richtens. Verbietet Christus diese Gerichte oder gestattet er sie? – Auf diese natürliche Frage gibt es keine Antwort, als wäre es bereits zu augenscheinlich, dass, sobald ein Christ einen Platz im Gerichte eingenommen, er nicht nur seinen Nächsten nicht verdammen, sondern ihn auch nicht richten dürfe.
Ich wende mich an griechische, katholische, protestantische Schriftsteller, an die Schriftsteller der Tübinger und historischen Schule. Von allen, selbst von den am freiesten denkenden Erläuterern werden diese Worte als Verbot des Verleumdens aufgefasst. Weshalb aber werden diese Worte, im Gegensatz zu der ganzen Lehre Christi, in so engem Sinne aufgefasst, dass das Verbot des Richtens das Verbot der Gerichte ausschliesst? Warum wird angenommen, dass Christus, indem er das Verdammen des Nächsten, das einem unwillkürlich entschlüpft, als eine schlechte Tat verbietet, ein eben solches Verdammen, das bewusst und mit Gewalttätigkeit gegen den Beschuldigten ausgeführt wird, nicht als eine schlechte Tat ansieht und es nicht verbietet? Darauf gibt es keine Antwort und nicht die geringste Andeutung darüber, dass man unter diesem Verdammen auch dasjenige Verdammen verstehen könne, welches in den Gerichten stattfindet und worunter Millionen von Menschen zu leiden haben. Mehr als das – um dieser Worte willen: richtet nicht und verdammet nicht, wird dieses grausamste Verfahren der gerichtlichen Verdammung sorgfältig umgangen und sogar entschuldigt. Die Ausleger, Theologen, sprechen davon, dass Gerichte in christlichen Staaten bestehen müssen und dass sie dem Gesetze Christi nicht entgegen sind.
Als ich dies bemerkte, zweifelte ich bereits an der Aufrichtigkeit dieser Auslegungen und machte mich an die Übersetzung selbst der Worte »richtet« und »verdammet«; ich tat also das, womit ich hätte beginnen sollen.
Im Original sind dies die Worte κρίνω und καταδικάζω. Die falsche Übersetzung des Wortes καταλαλέω in der Epistel Jakobi, wo es durch das Wort afterreden wiedergegeben ist, bestätigte meinen Zweifel an der Richtigkeit des Ausdrucks. Ich forsche danach, wie im Evangelium die Worte κρίνω und καταδικάζω in verschiedenen Sprachen übersetzt sind, und finde, dass in der Vulgata das Wort verdammen durch condemnare wiedergegeben ist, ebenso heisst es im Französischen und im Slavischen heisst es ossuchdaite. Bei Luther steht das Wort »verdammen«, weiches einen andern Sinn hat.
Die Verschiedenheit dieser Übersetzungen verstärkt noch meine Zweifel und ich steile mir die Frage: was bedeutet und was kann das griechische Wort κρίνω und das Wort καταδικάζω bedeuten, das der Evangelist Lukas gebraucht, der, nach dem Urteile der Kenner, ein ziemlich gutes Griechisch geschrieben hat. Wie würde jemand, der nichts von der Lehre des Evangeliums und dessen Erläuterungen weiss und der nur dies eine Wort vor sich hätte, dieses Wort übersetzen?
Ich forsche im allgemeinen Wörterbuch und finde, dass das Wort κρίνω viele verschiedene Bedeutungen hat und darunter die ausserordentlich gebräuchliche Bedeutung gerichtlich verurteilen, töten sogar, nie aber die Bedeutung verleumden. Im Lexikon des neuen Testaments nachschlagend, finde ich, dass dieses Wort im neuen Testament oft in dem Sinne gerichtlich verurteilen gebraucht wird. Zuweilen hat es die Bedeutung auslosen, nie aber die Bedeutung verleumden. Und so sehe ich, dass das Wort κρίνω verschieden übersetzt werden kann, dass aber eine Übersetzung, die ihm die Bedeutung verleumden beilegt, die entfernteste und unerwartetste ist. Ich forsche nach dem Worte καταδικάζω, das sich an das Wort κρίνω anschliesst, welches so viele Bedeutungen hat, augenscheinlich um die Bedeutung festzustellen, in welcher das erste Wort vom Schreibenden gebraucht wird. Ich forsche nach dem Worte καταδικάζω im allgemeinen Wörterbuch und finde, dass dieses Wort nie eine andere Bedeutung hat, als die: gerichtlich zu Strafe verurteilen oder töten. Ich forsche im Wörterbuch des neuen Testaments und finde, dass dies Wort im neuen Testament viermal angewendet ist und jedesmal in dem Sinne verurteilen, töten. Ich forsche in den Kontexten und finde, dass dieses Wort in der Epistel Jakobi Kap. 5, 6 angewendet ist, wo es heisst: ihr habt verurteilet den Gerechten und getötet. Das Wort verurteilen, dasselbe Wort καταδικάζω ist auf Christus angewandt, den man gerichtet hat. – Anders, in einem anderen Sinne, wird dies Wort nie, weder im neuen Testament noch in irgend einer griechischen Sprache gebraucht.
Was war denn das? So weit war ich zum Narren geworden? – Mir, so gut wie jedem von uns, der in unserer Gesellschaft lebte, musste, sobald wir über das Schicksal der Menschen nachdachten, grauen vor jenen Qualen und jenem Bösen, das die menschlichen Kriminalgerichte in das Leben des Menschen bringen: Böses für die Gerichteten und Böses für die Richtenden – von den Hinrichtungen des Tschingis-Chan und der französischen Revolution bis zu den Todesstrafen unserer Tage.
Keinem Menschen von Gemüt ist jener Eindruck des Grauens und des Zweifels am Guten fremd geblieben beim Erzählen allein – ich spreche schon gar nicht vom Anblick der Strafen, die ein Mensch an einem andern Menschen vollzieht: das Spießrutenlaufen bis zum Tode, die Guillotine, der Galgen.
Im Evangelium, von dem wir jegliches Wort heilig halten, heisst es offen und klar: ihr hattet ein Kriminalgesetz: Zahn um Zahn; ich aber gebe euch ein neues Gesetz: widerstrebet nicht dem Übel; erfüllet alle dies Gebot: vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern tut stets und allen Gutes und vergebet allen.
Und weiter heisst es geradezu: richtet nicht. Und auf dass ein Missverständnis über die Bedeutung dieser Worte unmöglich sei, ist hinzugefügt: verurteilet nicht durch die Gerichte zu Strafen.
Mein Herz sagt klar und vernehmlich: strafet nicht; je mehr ihr strafet, umso mehr Böses geschieht. Die Vernunft sagt: strafet nicht; durch Böses kann man nicht Böses verhüten. Gottes Wort, an das ich glaube, sagt dasselbe. Und ich lese die ganze Lehre, lese diese Worte: richtet nicht und ihr werdet nicht gerichtet werden; verdammet nicht und ihr werdet nicht verdammt werden; vergebt und euch wird vergeben werden; ich bekenne, dass es Gottes Worte sind, und sage, dass sie bedeuten, man solle nicht klatschen und verleumden, und fahre fort die Gerichte für christliche Institutionen zu halten und mich selbst als Richter und Christen anzusehen. – Und ich erschrak vor dem groben Irrtum, in dem ich mich befand.
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Christi Lehre von den Gläubigen als unerreichbares Ideal, als Wahn von den Ungläubigen aufgefasst
Ich begriff jetzt was Christus sagt, wenn er spricht: ihr habt gehöret, dass da gesagt ist: Aug' um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: widerstrebet nicht dem Übel, sondern ertraget es. – Christus sagt: es ist euch eingeprägt und ihr seid gewohnt das für gut und vernünftig anzuerkennen, dass man sich mit Gewalt gegen das Übel wehre und Aug' um Auge ausreisse, dass man Kriminalgerichte, Polizei und Armeen einsetze um sich gegen den Feind zu schützen. Ich aber sage euch: brauchet keine Gewalt, nehmet nicht teil an Gewalttaten, tut niemandem Böses, selbst denen nicht, die ihr eure Feinde nennt.
Ich begriff jetzt, dass Christus im Gesetze des Nichtwiderstrebens dem Übel nicht nur darüber spricht was für jeden unmittelbar aus dem Nichtwiderstreben dem Übel entstehen würde, sondern dass er, im Gegensatz zu jenem Gesetze, welchem sich, nach Moses und nach dem römischen Rechte, das Volk zu seiner Zeit unterwarf und nach welchem, verschiedenen Gesetzbüchern nach, auch jetzt die Menschheit lebt, den Grundsatz des Nichtwiderstrebens dem Übel aufstellt, einen Grundsatz, der, seiner Lehre nach, die Basis des Lebens der Menschen miteinander sein und die Menschheit von dem Übel befreien soll, das sie sich selbst bereitet. Er sagt: ihr glaubt dass eure Gesetze das Übel verbessern; sie aber vergrössern es