Deutschland 1800 - 1953. Jürgen Ruszkowski
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Juden schlossen sich der deutschen Freiheitsbewegung an. Ludwig Bamberger (1823-1899) war einer der führenden Kämpfer für Demokratie und wurde wegen seiner Aktivitäten in der Revolution von 1848 zum Tod verurteilt. Er floh ins Ausland, durfte aber 1866 nach Deutschland zurückkehren. Er war einer der Gründer der Deutschen Reichsbank und Schöpfer der einheitlichen Goldwährung. Mehrmals in den Reichstag wiedergewählt, stellte er sich schließlich nicht mehr zur Wahl wegen des wachsenden Antisemitismus in Kreisen der Politiker.
Gabriel Riesser (1806-1863), dem erst nach wiederholter Ablehnung seitens der Regierung in seiner Vaterstadt Hamburg die Zulassung als Anwalt und Notar gewährt worden war, wurde 1848 zum Vizepräsidenten des demokratischen Parlaments in der Paulskirche zu Frankfurt gewählt. Mutig führte er den Abgeordneten, welche gar nicht daran gedacht hatten, den Anspruch der Juden auf Gleichberechtigung vor Augen. Er war Mitglied der Abgesandten des Parlaments, die König Wilhelm IV. von Preußen die Krone eines geeinten Deutschlands anboten. Nachdem der König dieses Angebot als vom Volke, „aus der Gasse kommend“, entrüstet abgelehnt hatte, löste sich das Parlament auf. Neue Unterdrückungen und Krawalle gegen die Juden folgten.
Zahlreiche Juden ließen sich nun taufen, um damit, in den Worten Heinrich Heines, „das Entréebillet zur Gesellschaft“ zu erwerben. Wie Heines Beispiel zeigt, half es nicht viel. (Im Gegensatz dazu wurde der als Kind getaufte Benjamin Disraeli Premierminister des britischen Empire und enger Vertrauter von Königin Viktoria. Disraeli betonte sein ganzes Leben lang in Wort und Schrift sein jüdisches Erbe.)
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Johann Hinrich Wichern in Hamburg-St.-Georg
Johann Hinrich Wichern in Hamburg-St.-Georg
In seinen Notizbüchern und in einem umfangreichen Manuskript „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“ hat der junge Wichern viel von der schreienden Armut und der trostlosen sittlichen Verwahrlosung festgehalten, die ihm auf seinen Besuchen im ‚Gängeviertel’ Hamburgs entgegentraten. Er fertigt Protokolle an, wobei er in Kontenbüchern auch die familiären und gesundheitlichen Zustände der Kinder vermerkt. Diese Aufzeichnungen suchen an Schärfe der Beobachtung und an der Hingabe am Einzelfall ihresgleichen. Hier findet man eine interessante Parallele zu dem Bild, das etwas später Friedrich Engels von der Lage der arbeitenden Klasse in England entwirft.
Großfamilie in einem Hinterhof in Hamburgs Gängevierteln
Was hindert uns, hineinzugehen in die Hütten des Unheils, an welche wir hier gedenken, den Jammer mit eignen Augen zu sehen und die armen Leute zu bitten und zu ermahnen, dass sie sich selbst, dass sie mindestens doch ihre unglücklichen Kinder retten lassen aus den Stricken des Todes?...
Dieser von Rautenberg schon 1830, als Wichern noch in Göttingen studierte, begründete, und von dem jungen Wichern geführte Besuchsverein, stößt hinein in die entlegensten Hinterhöfe der Armut und des Elends, in die dunkelsten Schlupfwinkel leiblicher und seelischer Verwahrlosung, in einen bisher nicht für möglich gehaltenen, von einem wohlbehüteten und wohlsituierten Bürgertum bisher nicht gekannten Abgrund sozialer Verlorenheit und menschlicher Verkommenheit. In einem späteren Bericht ist zu lesen: „Das ganze sittliche Leben der Leute schlägt sich nieder in die Leidenschaft des Magens, und ihr ganzer Himmel schrumpft zusammen in eine Semmel. Die rohe Befriedigung der niedersten Bedürfnisse ist’s allein, was sie noch suchen. Alles andere haben sie aufgegeben. Für sie gibt’s keinerlei Ordnung mehr in der Welt, nur Auflösung, Anarchie und Verwirrung.
Familie in einem Hof in Hamburgs Gängevierteln
Innerhalb ihrer Kreise zerstören sie alle Ordnung völlig und am letzten Scheit lodert das Gesetzbuch häuslicher Zucht und Sitte auf. Vom Greise bis zum Kinde, das am Boden kriecht, geht jeder seinen eigenen Weg nach des bösen Herzens Lust. Genug, sie führen ein Leben, wie die Raben auf unseren Türmen.“ Wichern zog selbst durch die Elendsquartiere und Lasterhöhlen, und sah in die tiefsten Tiefen der Not und des Unglaubens hinein. Er gewann Eindrücke von der Verelendung und Gefährdung, Abstumpfung und Verbitterung der breiten Masse, die ihn nicht mehr losließen und für die Zukunft seinen Weg und sein Werk bestimmten und prägten.
Da ist das berüchtigte Gängeviertel in Hamburg, eine dunkle Ecke, ein muffiges Hinterhaus. „Durch den lichtlosen Flur muss man sich nach der Tür tasten. Hinter der Tür: nur trübes Licht im dunklen Raum. Schnapsflaschen auf schmutzigem Tisch. Und ein Geruch von Verwesung und Moder. Kartenspielende Männer. Eine Frau rekelt sich winselnd auf der wackligen Bettstelle, wirr hängen ihr die öligen Haare ungemacht um den Kopf. „Du versoffenes Aas!“ schimpft einer der Männer, dem selbst der Trunk und das Laster im Gesicht geschrieben stehen. In einer Ecke ein Knäuel sich balgender Kinder. Gezänk um eine Kruste Brot. In den Augen der offene Hunger. Auf dem Tisch der Schnaps. Nur fluchende Männer und ein heulendes, betrunkenes Weib, das den Namen „Mutter“ kaum noch verdient. „Guten Tag – wir kommen von der Sonntagsschule – wir möchten Ihre Kinder abholen!“ Spottende Flüche und höhnisches Gelächter – und dann die Antwort von einem der Männer: „Meinetwegen – Ihr könnt sie haben – alle! Haut ab – dann sind sie aus dem Wege.“ Und einer der Schnapsbrüder schreit: „Ihr könnt sie behalten – umsonst – Ihr könnt sie geschenkt bekommen.“ Beklommen trippeln die Kinder an der Seite des fremden freundlichen Mannes – es ist der junge Wichern – zur „Sonntagsschule“. Dort werden sie gewaschen und gespeist und lernen singen, beten, auch schreiben, rechnen und lesen, und lernen fröhlich und dankbar sein.
Freilich, viele Bemühungen, leiblich und geistlich zu helfen, sind oft wie Tropfen auf heißem Stein, und helfende Hände werden von den Verständnislosen in Verbitterung und mit Hohn zurückgewiesen: „Baut diesen Versunkenen die schönsten Schulen vor die Tür, ihre Kinder werden den Weg darüber hin durch Fenster oder Ziegel finden. Bauet sie mit derselben ein; sie werden euch die Kinder mit List und Gewalt entführen. O fürwahr, Freunde, wenn der Geist christlicher Gemeinschaft und Zucht nicht besondere starke Dämme gegen diesen reißend wachsenden Strom des Unheils aufführt, so mögen wir zehn Schulen in jeder Gasse errichten – ein großer Teil des aufkeimenden Geschlechts wird doch nicht viel besser werden.“
So war die Einrichtung der Sonntagsschule – das erkannte Wichern sehr klar – für die gefährdete Jugend zunächst nur eine halbe Hilfe. Was war damit schon viel getan, wenn man die Kinder nur am Sonntag für kurze Stunden aus den Gassen und Gossen herausholte, und wenn man sie dann die ganze Woche über wieder in den Schmutz und das Laster ihrer Umwelt zurückschickte.
Wenn man diesen jungen Menschenkindern wirklich helfen wollte, war ein dauerndes Herauslösen aus dem verderblichen Einfluss und ein Verpflanzen in einen neuen Mutterboden dringend von Nöten. So reifte denn bei Wichern und bei seinen Freunden und Mitarbeitern der Plan, nach dem Beispiel des Grafen von der Recke in Düsseltal, und eines Johannes Falk in Weimar, und nach dem Vorbild des Halle’schen Waisenhauses, zur Gründung