Die Narben aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
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Читать онлайн книгу Die Narben aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen страница 3
Alle Blicke richten sich auf sie. Auch Julian sieht sie verunsichert an.
„Julian, wie stellst du dir das vor? Du kannst nicht einfach wieder in mein Leben platzen und so tun, als wäre nichts gewesen. Du hast mich unter Drogen gesetzt, dass ich dachte, ich muss sterben, und das zweimal. Du hast Tim vor meinen Augen übel zugerichtet und uns beide glauben lassen, dass du uns umbringen wirst. Außerdem hast du mir mit einem Messer in den Hals geschnitten, dass ich fast dabei draufgegangen bin. Und jetzt tauchst du hier auf und meinst, ich muss dich als deine Schwester in die Arme schließen und es ist alles vergessen?“ Carolin klingt erschreckend aufgebracht und Tränen laufen ihr über die Wangen. Ihre Hände zittern und auch ihr ganzer Körper beginnt zu vibrieren.
Ich schiebe Julian unsanft aus dem Weg und schlinge meine Arme um ihren zitternden Körper. „Beruhige dich. Es kann dir nichts passieren. Komm, ich bringe dich nach Hause. Atme tief ein und versuche dich auf deine Atmung zu konzentrieren“, raune ich ihr eindringlich zu und hoffe, sie beruhigt sich und driftet nicht erneut in einen Zusammenbruch.
Sie sieht mich nur aus ihren tränenverschleierten Augen hilflos an, dass es mir einen Stich versetzt.
Ellen kommt an unsere Seite und legt Carolin ihre Hand auf den Rücken. Sie sieht genauso besorgt aus, wie ich mich fühle
„Ganz ruhig“, raunt auch sie aufgebracht und wirft mir einen verunsicherten Blick zu.
„Was ist mit ihr?“, höre ich Julian hinter mir fragen und würde ihn am liebsten mit einem Faustschlag ins Jenseits befördern. Aber dafür müsste ich Carolin loslassen.
Ellen sieht ihn mit wütendem Blick an und brüllt: „Sie steht wegen dir ständig kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Also lass sie in Ruhe!“, und Daniel schubst Julian noch weiter von uns weg.
Der steht nur da und starrt uns an.
Sabine und Susanne fragen, was los ist und das kleine Dickerchen taucht neben Ellen auf und flüstert: „Gibt es Stress wegen diesem Typ?“
„Komm, wir gehen“, sage ich und nicke Daniel zu.
Als ich Carolin vom Hocker ziehe, merke ich, dass sie kaum stehen kann. Ich greife fest um ihre Taille und bringe sie zum Ausgang, ohne großes Aufsehen zu erregen. Nicht, dass noch jemand die Polizei verständigt.
Daniel folgt uns und hält die Tür nach draußen auf.
„Hol das Auto“, sage ich und er sprintet los.
Ellen taucht an Carolins anderer Seite auf und schiebt ihren Arm um sie, um sie zu stützen. „Nicht schon wieder! Soll ich Dr. Bremer anrufen?“, fragt sie.
„Nein, ich denke, das kriegen wir allein hin. Sie muss bloß nach Hause“, antworte ich ihr und Daniel kommt mit dem Mustang vor uns zum Stehen.
Ich bin froh, als ich endlich mit Carolin im Auto sitze und Daniel uns nach Hause fährt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Carolin lehnt mit blassem Gesicht an meiner Brust und noch immer laufen ihr Tränen über das Gesicht. Aber sie scheint das gar nicht wahrzunehmen.
Daniel lenkt den Wagen auf unseren Hof und lässt den Motor ausgehen.
„Erik, hey, sie wird schon wieder!“, versucht Ellen mich zu beruhigen.
Ich schüttele nur mit diesem schrecklichen Gefühl der Hilflosigkeit den Kopf. „Ich kann nichts tun! Gar nichts! Ihr Bruder wird sie niemals in Ruhe lassen und irgendwann bricht sie ganz zusammen. Und dann?“, antworte ich ihr und sehe in Carolins blasses Gesicht.
Ellen zieht nur die Schultern hoch und steigt aus, um uns herauszulassen.
Ich ziehe Carolin aus dem Auto. Sie scheint aller Kraft beraubt zu sein und von Ellen und Daniel flankiert, trage ich sie in unsere Wohnung hoch und lege sie ins Bett.
Ellen zieht ihr die Stiefel aus und ich hülle sie in die Bettdecke ein. Carolin öffnet nicht mal mehr die Augen.
Ich streiche ihr die Haare zurück und hauche ihr einen Kuss auf die Wange. Ihr Gesicht verliert alle Anspannung und sie scheint zu wissen, dass ich da bin. Die Decke noch ein Stück höher ziehend, lasse ich sie schlafen, etwas dadurch beruhigt, dass sie zumindest meine Nähe als beruhigend empfindet.
Ellen und Daniel warten in der Küche auf mich. Daniel kocht uns einen Kaffee und Ellen steht an den Küchenschrank gelehnt. Sie sieht mir entgegen und ich raune: „Sie schläft. Das ist gut. Auch ohne Beruhigungsmittel.“ Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen.
„Dass das Carolins Bruder ist“, meint Daniel fassungslos. „Und ich habe ihm auch noch gesagt, wo wir immer hingehen. Ich habe keine Sekunde damit gerechnet, dass der Carolins Bruder sein könnte.“
„Wie solltest du das auch wissen? Der sieht Carolin überhaupt nicht ähnlich“, versucht Ellen ihn zu beruhigen und ich kann das nur bestätigen. Ich hatte mich schon einmal gefragt, wie Carolin an Tim geraten konnte. Er ist mit seinen schwarzen Haaren und dunklen Augen so ganz anders als Marcel … und ich. Aber jetzt wird mir klar, dass sie mit diesem dunklen Typus aufgewachsen war. Mit diesem Schönlingsverschnitt.
Ich sehe Ellen an und würde sie gerne fragen, wie sie Julian findet. Aber das kann ich natürlich nicht machen, wo Daniel neben uns sitzt. Und es gibt weitaus Wichtigeres. Wie kann ich Carolin vor ihm beschützen?
Wir trinken unseren Kaffee und Daniel erzählt uns genau, wie Julian ihn in der Uni ansprach und mir noch, wie Julian sich plötzlich Carolin auf der Tanzfläche gegriffen hatte und sie sich versuchte, aus seinem Griff zu winden. Ich kann fast fühlen, wie sie sein plötzliches Auftauchen erschreckt haben muss und wie entsetzt sie gewesen sein muss, als er sie an sich zog. Mir stellen sich die Nackenhaare bei dem Gedanken auf, dass sie völlig in Panik gewesen sein muss. Und ich hatte mich draußen von diesem Blödmann aufhalten lassen.
Ich bekomme von Ellen und Daniel auch noch den weiteren Verlauf des geschwisterlichen Zusammentreffens geschildert, bis zu dem Punkt, als ich Julian ausbremste … und bis drei Uhr am Morgen besprechen wir, wie wir Carolin am besten vor ihm beschützen können. Dann verabschieden sich Ellen und Daniel, und Ellen drückt mich sogar. „Ruf an, wenn du uns brauchst. Jederzeit.“
Ich nicke nur und hoffe, das wird nicht notwendig werden.
Alle Lichter löschend, gehe ich zu Carolin, ziehe meine Hose und mein T-Shirt aus und schiebe mich vorsichtig unter die Decke. Ich will sie auf keinen Fall wecken. Sie muss schlafen, bis all ihre Ängste und ihr Kummer an Kraft verloren haben.
Das Wetter schlägt um und es beginnt zu regnen. Ich höre das Prasseln der Regentropfen an der Fensterscheibe und bin müde. Aber immer wieder schieben sich die Ereignisse des Abends in meinen Kopf und lassen mich einfach nicht zur Ruhe kommen. Und zu diesen Gedanken gesellen sich auch noch die an Sam, Teddy und Walter und wie ich einen Moment glaubte, sie würde mich wegen denen verlassen, und dass ich vorher tagelang von einer Unsicherheit getrieben mir nicht sicher war, ob ich überhaupt bei ihr bleiben möchte. Und irgendwo dazwischen gab es auch noch so etwas wie eine Einsicht, dass ich, weil ich sie aus ihrem alten Leben riss, um sie an mich zu binden, eine Verantwortung für sie habe.
Carolin ist sechs Jahre jünger als ich. Ich muss sie beschützen und meine Verantwortung für sie ernst nehmen. Und ich werde das auch. Sie zu verlieren ist für mich erneut