Die Therapie entdeckt die Familie. Dr. med. Günther Montag
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Unterschiede zwischen dem persönlichen und dem systemischen Helfen
Verfahren in der herkömmlichen Therapie, die viel mit dem logischen Verstand arbeiten, kommen trotz aller Beteuerungen mancher Ausbildungsinstitute an Grenzen bei schweren Störungen.
Um so mehr kognitiv im Sinne von „oberflächlich - verkopft“ die Therapie durchgeführt wird, um so weniger Kraft hat sie.
Je nach Geduld von Klient und Therapeut bleiben beide in einem endlosen Kreis des Sprechens, Versuchens und Scheiterns. Die Therapie wird ihren Grundsätzen untreu, denn sie wird zu einer Art Betreuung oder bezahlter Zuwendung.
Eine solche Therapie ist ein „therapeutisches Verhältnis“ in dem sarkastischen Sinn wie dieses Wort im Buch „Ordnungen des Helfens“ gebraucht wird: eigentlich ein doppeltes Mutter-Kind-Verhältnis. Sowohl Helfer als auch Klient sind zugleich Mutter und Kind.
In wesentlichen, zum Beispiel den folgenden Punkten geht das systemische Denken und Arbeiten weit zumindest über die „klassische“ auf der Lerntheorie basierende VT hinaus:
Von der Ich - zur Wir - Perspektive
In der klassischen Vorstellung der VT ist der Wunsch nach Funktionieren und nach Überleben Antrieb für Verhalten und Lernen. Das Kind wird in der Familie weitgehend als ein Einzelwesen betrachtet das sich anpasst, um versorgt zu werden mit Nahrung und Zuwendung, damit es überleben kann. Die dysfunktionalen Verhaltensmuster werden als Ruf nach Zuwendung gesehen. Defizite im adäquaten Verhalten des Erwachsenen sind Lerndefizite in der Kindheit. Die Therapie soll helfen, zu lernen was wir bei den Eltern nicht lernen konnten. Es gibt eine klare, gegenwartsbezogene Vorstellung von richtig und falsch, die – in der Sprache des Familienstellens – dem persönlichen Gewissen entspricht.
Das Familienstellen sieht die Grundmotive des Lebens komplexer, es betrachtet 3 Ebenen des Gewissens, die teils zueinander im Widerspruch stehen. Das tiefste Grundmotiv des Menschen ist Liebe.
Erste Ebene: Das Kind tut alles, um dazugehören zu dürfen. Es ist getrieben von einem persönlichen Gewissen das ihm sagt was gut und was böse ist. Es will überleben, Zuwendung und Versorgung. Aber: Diese vordergründige Ebene kann nicht alles erklären. Warum wollen manchmal Kinder sterben?
Zweite Ebene: Diese kollektive Ebene des Gewissens schaut alle an und möchte alle, die ausgeschlossen sind, wieder hereinbringen, das führt zu einem Verhalten „aus blinder Liebe“: Ein Kind vertritt unbewusst einen oder mehrere Fehlende, es bringt sie symbolisch wieder in die Familie hinein. Die zweite Gewissensebene ist aber in sich widersprüchlich, weil es in ihr eine Instanz gibt, die die Hierarchie achtet und Spätere bestraft die für Frühere etwas tragen wollen. Diese Verwirrung führt zu merkwürdigem Verhalten und inadäquaten Gefühlen eines Kindes, in schweren Fällen zu Autismus, Stottern, Schizophrenie, die auf Mehrfach- Identifizierungen zurückzuführen sind, wie Aufstellungen oft zeigen. Dieses aus der Sicht der VT- Sprache sehr „dysfunktionale“ Verhalten lässt sich kaum noch mit der üblichen Lerntheorie erklären.
Dritte Ebene: Diese tiefste (oder höchste) Ebene des Gewissens ist die, auf der wir manchmal Lösungen finden. Um aber auf dieses sogenannte „geistige Gewissen“ zu hören, braucht es Übung und eine Einsicht die erst errungen werden muss. Auf dieser Ebene können Familienaufstellungen dort helfen und Frieden bringen, wo andere Hilfe versagt.
Beim Helfen haben wir also das ganze System und auch noch Ebenen darüber hinaus im Blick. Statt „Ich-Stärkung“ wie in der VT kommen wir zum Achten und Ordnen der Verbindungen des „Wir“ im systemischen Arbeiten. „Ich bin meine Eltern“ - also stärken wir die Verbindung. Wir helfen, die Eltern ganz zu nehmen. Das macht dann letztendlich erst eine gesunde Loslösung und Ichstärkung möglich.
Von der vordergründigen zur ganzheitlichen Symptom-Deutung
Sehen wir also das „Ich“ eines Menschen als nur einen Teil von vielen Knotenpunkten eines Netzwerks, und beherzigen wir die Grundannahme „Kinder sind immer lieb“, lernen wir zu schauen, wohin das Kind - oder der erwachsene Klient, mit den Augen eines Kindes - mit Liebe schaut. An wen will das Kind erinnern? Zu wem zieht es das Kind hin? Wenn wir die tiefe Liebe sehen, die sich hinter einem Symptom verbirgt, gelingt es uns manchmal, diese Liebe auf andere, „erwachsene“ Art zu verwirklichen. Dann kann sich das Symptom zurückziehen. Dieses ganzheitliche Deuten steht im Gegensatz zur reduktionistischen Sichtweise die man in der klassischen VT und auch anderen Verfahren oft findet.
Das Anliegen hinter dem Anliegen sehen
Mit der systemischen Sicht schauen wir über das vorgebrachte Anliegen des Klienten hinaus. Wir schauen was er wirklich will oder nicht will. Wir schauen nicht nur, was er braucht, sondern darüber hinaus auf was die von ihm oder seiner Familie ausgeschlossenen Personen brauchen. So durchschauen wir die „Abwehr“ der Klienten, die sich hinter Vorwürfen und Klagen oft verbirgt, denn sie sind oft Begründungen für das Nichthandeln. Der erste Satz, der Händedruck und nonverbale Zeichen sagen zusammen mehr als viele Worte. Ist es nicht die größere Achtung, nicht nur die Bilder anzuschauen die der Klient präsentiert, sondern auch ihn und seine Familie an seinen Bildern vorbei ? Das bringt den Vorwurf ein, dass wir an den Anliegen der Klienten vorbeigehen. Falls dieser Vorwurf eine Opferrolle verteidigt, achtet der absichtslose Helfer auch das und lässt den Klienten dort.
Phänomenologische Grundhaltung
Das ist eine non-direktive Haltung. Es heißt: Bereit sein, geführt zu werden. Anerkennen was ist, auch das Verborgene. Anerkennen dass es verborgen bleibt. Zustimmen zum Nichtwissen. Achtung vor etwas Größerem, das wir nicht begreifen, die sich uns nur bruchstückhaft in den Phänomenen zeigt.
Bert Hellinger sagte wörtlich über die „Hingabe im Familienstellen“: „Die Arbeit des neuen Familienstellens beginnt mit der Hingabe. Es steht ein Klient vor uns und er erwartet etwas von uns. Wenn wir uns ihm hingeben, bereit sind, nicht nur mit ihm in Kontakt zu kommen, sondern mit einer ewigen, schöpferischen Kraft, die hinter allem wirkt, dann warten wir, bis wir von dieser Kraft geleitet werden. Statt auf den Klienten zu schauen und zu überlegen, was mache ich mit ihm. Denn dann bin ich in einer Zweier-Beziehung. Er dort, er will etwas. - Ich hier, ich gebe. Enger geht es nicht. Das nimmt was weg von der Größe, in die wir mitgenommen werden. Hingabe beginnt also mit Zurückhaltung. Ich als Aufsteller halte mich zurück, bis ich mitgenommen werde von einer schöpferischen Kraft, die weit über mich hinausgeht. Diese Kraft bestimmt, wie weit ich gehen kann und darf. Wann ich mich zurückziehe und andere Kräfte zum Zuge kommen lasse. Deswegen geht das Familienstellen, wo offensichtlich andere Kräfte jederzeit wirken, weit über das hinaus, was wir uns vorstellen können. Kräfte, die schöpferisch wirken, verlangen Demut. Ich füge mich dieser Bewegung und dann geschehen Wunder. Von woanders her. Das ist die Grundhaltung, in die wir uns beim neuen Familienstellen einüben, Schritt für Schritt.“
Tiefe Wirkung und Fernwirkung der systemischen Lösungssätze
Sicher hat auch eine erfolgreiche VT Fernwirkung auf Familienangehörige, da alle wie ein Spiegel sind. Zum Beispiel: Wenn jemand mit Hilfe der VT selbstsicherer wird, haben die anderen mehr Respekt und arbeiten besser mit ihm zusammen. Systemische Lösungsworte oder Selbstinstruktionen gehen in ihrer Kraft weit über ichbezogene Affirmationen hinaus. Da die Lösungsworte in den Aufstellungen auf Personen bezogen sind,