Vater Goriot. Honore de Balzac
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So also sah es Ende November 1819 in der Familienpension aus. Einige Tage später kehrte Eugen vom Ball der Frau von Beauséant gegen zwei Uhr nachts heim. Um die verlorene Zeit wieder einzubringen, hatte der tapfere Student sich vorgenommen, bis zum Morgen durchzuarbeiten. Das sollte die erste Nacht sein, die er hier im stillen Stadtviertel durchwachte. Er hatte am Abend bereits nicht mehr in der Pension gespeist; seine Hausgenossen konnten also annehmen, daß er erst bei Tagesgrauen heimkehre werde, wie er das einigemal nach den Festen im Prado oder den Bällen im Odéon getan hatte. Bevor Christoph den Riegel vor die Tür schob, hatte er sie noch einmal aufgemacht, um auf die Straße zu sehen. In diesem Augenblick erschien Rastignac und konnte geräuschlos in sein Zimmer hinaufsteigen; ihm folgte Christoph, der um so mehr Lärm machte. Eugen zog sich aus, nahm einen alten Überrock um, zog Pantoffeln an, heizte seinen Ofen mit Torf und nahm seine Arbeit zur Hand. Christophs derber Schritt übertönte die leisen Geräusche dieser Vorbereitungen. Eugen blieb ein paar Minuten gedankenvoll sitzen, ehe er sich in die Arbeit stürzte. Er hatte in der Frau Vicomtesse von Beauséant eine der Königinnen von Paris kennen gelernt, deren Haus als eins der liebenswürdigsten im Faubourg Saint-Germain galt. Ferner gehörte sie sowohl wegen ihres Namens wie auch wegen ihres Vermögens zur höchsten Aristokratie. Dank seiner Tante Marcillac hatte der arme Student in jenem Hause gute Aufnahme gefunden, ohne sich der Tragweite dieser Gunst bewußt zu sein. Wer in diese goldenen Salons zugelassen war, den hatte man in den hohen Adel aufgenommen. Da er sich hier in dem exklusivsten Zirkel von ganz Paris hatte zeigen dürfen, so hatte er das Recht erlangt, überall hinzugehen. Geblendet von der glänzenden Gesellschaft, hatte Eugen, der kaum ein paar Worte mit der Vicomtesse wechseln konnte, sich begnügt, unter der Menge der Göttinnen, die hier durch die Säle drängten, eine einzige Frau auszuzeichnen, eine jener Frauen, die junge Leute stets zur Anbetung hinreißen. Die Gräfin Anastasia von Restaud war groß und schön gewachsen und galt als eine der hübschesten Erscheinungen von Paris. Sie hatte große schwarze Augen, eine wunder volle Hand, einen feingeschnittenen Fuß und feurige Bewegungen. Der Marquis von Ronquerolles nannte sie ein Vollblutpferd. Die Feinheit ihrer Sehnen beraubte sie keines anderen Vorzugs; sie hatte volle, runde Formen, ohne doch üppig zu sein. ›Vollblutpferd‹, ›Rasseweib‹, diese Benennungen begannen die ›himmlischen Engel‹, die ›ossianischen Gestalten‹, die ganze abgelegte Liebesmythologie zu ersetzen. Für Rastignac aber war Frau Anastasia von Restaud das Weib seiner Sehnsucht. Er hatte sich in der Liste der Tänzer, die sie auf ihren Fächer schrieb, zwei Plätze gesichert und hatte während des ersten Kontertanzes mit ihr sprechen können.
»Wo kann man Sie wiedersehen, gnädige Frau?« hatte er mit jener Leidenschaft gefragt, die den Frauen so gefällt, »Nun, überall,« erwiderte sie, »im Bois, im Bouffons, bei mir.«
Und der verwegene Südfranzose hatte sich beeilt, mit der entzückenden Gräfin in Beziehungen zu kommen, soweit dies während eines Kontertanzes und eines Walzers möglich sein konnte. Als er sich einen Vetter der Frau von Beauséant nannte, wurde er von seiner Dame, die er für eine der vornehmsten hielt, zu einem Besuch eingeladen. Nach dem letzten Lächeln, das sie ihm schenkte, empfand Rastignac seinen Besuch als notwendig. Dann hatte er das Glück gehabt, einem Manne zu begegnen, der sich nicht über seine Unkenntnis lustig machte, wie das wohl die vornehmen Spötter jener Zeit getan hätten: die Maulincour, Ronquerolles, Maxime von Trailles, von Marsay, Ajuda-Pinto, Vandenesse, die da in ihrem ganzen Glanz und Dünkel und im Kreise der vornehmsten Frauen auftraten: der Lady Brandon, der Herzogin von Langeais, der Gräfin von Kergarouet, der Frau von Sérizy, der Herzogin von Carigliano, der Gräfin Ferraud, der Frau von Lanty, der Marquise d'Aiglemont, der Frau Firmiani, der Marquise von Listomère und der Marquise d'Espard, der Herzogin von Maufrigneuse und der Grandlieu. Glücklicherweise geriet der naive Student an den Marquis von Montriveau, den Geliebten der Herzogin von Langeais, einen General mit der Geradheit eines Kindes, der ihm mitteilte, daß die Gräfin von Restaud in der Rue du Helder wohne. Jung sein und durstig nach dem Leben, hungrig nach einer Frau, und zwei Häuser für sich geöffnet sehen! Den Fuß in den Faubourg Saint-Germain zur Vicomtesse von Beauséant setzen und das Knie in der Chaussee d'Antin vor der Gräfin von Restaud beugen! Einen Blick in alle Pariser Salons werfen und sich für hübsch genug halten, im Herzen einer Frau Beistand und Förderung zu finden! Sich ehrgeizig genug fühlen, mit prächtigem Schwung das straff gespannte Seil zu betreten, auf dem man mit der Sicherheit des Berufsseiltänzers schreiten muß, und in einer reizenden Frau die beste Balancierstange gefunden haben! Mit solchen Gedanken und angesichts des Bildes jener Frau, das ihm da bei seinem Torffeuer zwischen dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Elend der Mansarde umschwebte, – wer hätte nicht gleich Eugen der Zukunft nachgegrübelt, wer nicht sie mit Erfolgen ausgestattet? Seine schweifenden Gedanken rechneten so sicher auf zukünftige Freuden, daß er sich neben Frau von Restaud glaubte, als plötzlich ein Seufzer wie das Röcheln des heiligen Joseph das Schweigen der Nacht durchzitterte und im Herzen des jungen Mannes widerhallte. Er öffnete leise seine Tür, und als er auf den Gang hinaustrat, gewahrte er einen feinen Lichtstreifen, der unter Vater Goriots Tür hervorschimmerte. Eugen, der befürchtete, sein Nachbar könne sich unwohl befinden, brachte sein Auge ans Schlüsselloch, blickte ins Zimmer und sah den Greis bei einer Arbeit, die ihm zu verbrecherisch schien, als daß er nicht geglaubt hätte, der Menschheit einen Dienst zu erweisen, wenn er gut beobachtete, was der sogenannte Nudelfabrikant nächtlicherweile trieb. Vater Goriot, der irgendwie auf der Fläche eines umgelegten Tisches eine vergoldete Silberplatte und ein Kännchen zu befestigen gewußt hatte, wand um diese reich verzierten Gegenstände so etwas wie einen Draht und zog diesen mit solcher Gewalt an, daß er sie tatsächlich zusammendrückte und einen Klumpen daraus machte.
›Pest! Welch ein Mann!‹ sagte sich Rastignac, als er die sehnigen Arme des Greises erblickte, der da lautlos mit seinem Draht das Silber zu Blei preßte. ›Sollte er ein Dieb oder ein Hehler sein, der um seiner Sicherheit willen sich dumm und hilflos stellt und wie ein Bettler lebt?‹ dachte Eugen und richtete sich einen Augenblick auf.
Von neuem legte der Student das Auge ans Schlüsselloch. Vater Goriot, der seinen Draht abgewickelt hatte, nahm die Silbermasse, breitete die Tischdecke über den Tisch und rollte den Klumpen darauf hin und her, um ihn zu einem Barren abzurunden. Er tat seine Arbeit mit staunenswerter Leichtigkeit.
›So wäre er also ebenso stark wie König August von Polen?‹ fragte sich Eugen, als der runde Barren einigermaßen in Form gebracht war.
Vater Goriot sah sein Werk mit trauriger Miene an, Tränen rannen ihm aus den Augen, er löschte den Wachsstock, bei dessen Licht er das Silber zerdrückt hatte, und Eugen hörte, wie er sich mit einem Seufzer niederlegte.
›Er ist toll‹, dachte der Student.
»Armes Kind!« sagte Vater Goriot laut.
Auf