Vater Goriot. Honore de Balzac
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Fräulein Michonneau trat leise ein, grüßte stumm und setzte sich zu den drei Frauen.
»Sie macht mich immer schaudern, die alte Fledermaus«, sagte Bianchon leise zu Vautrin und zeigte auf Fräulein Michonneau. »Ich, der ich das Gallsche System studiere, entdecke an ihr die Stirnhöcker des Judas.« »Kennen Sie sie so genau?« fragte Vautrin. »Wer kennte sie nicht!« erwiderte Bianchon. »Mein Wort, diese alte, bleichsüchtige Jungfer kommt mir vor wie so ein langer Wurm, der nach und nach einen ganzen Balken zernagt.« »Ja, junger Mann, das ist nun so«, sagte der Vierzigjährige, seinen Backenbart kämmend.
»Und Rosa, sie lebte, wie Rosen es tun,
Einen einzigen Morgen nur.«
»Sieh da, eine herrliche Suppe mit Rama«, sagte Poiret, als Christoph feierlich mit der Suppenterrine eintrat. »Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte Frau Vauquer, »es ist Suppe mit Kohl.«
Alle jungen Leute brachen in Lachen aus.
»Reingefallen, Poiret!« »Poirrrrette reingefallen!« »Zwei Points für Frau Vauquer«, sagte Vautrin. »Hat jemand heute den furchtbaren Nebel bemerkt?« fragte der Beamte. »Es war«, sagte Bianchon, »ein toller, trauriger, kläglicher, grüner, drückender Nebel, ein Goriotscher Nebel.« »Mehr noch, Goriotrama,« sagte der Maler, »denn man sah nicht einmal die Hand vor den Augen.« »He, Mylord Gaoriotte, es sein Rede von Sie.«
Vater Goriot, der am Ende der Tafel saß, nahe bei der Tür, durch die man die Speisen auftrug, hob den Kopf, während er an einem Stück Brot roch, das er unter der Serviette hielt, – eine ab und zu wieder auftauchende Gewohnheit aus seiner Berufszeit.
»Nun,« rief Frau Vauquer giftig, mit einer Stimme, die den Lärm der Tafelnden noch übertönte, »finden Sie etwa das Brot nicht gut?« »O nein, im Gegenteil,« erwiderte er, »es ist aus Mehl von Étampes bereitet, erste Qualität.« »Woran erkennen Sie das?«, fragte ihn Eugen. »An der Weiße und an dem Geschmack.« »Am Geschmack der Nase, da Sie daran riechen«, sagte Frau Vauquer. »Sie werden so sparsam, daß Sie noch ein Mittel ausfindig machen werden, sich vom Küchendunst zu nähren.« »Versäumen Sie nur ja nicht, sich diese Erfindung patentieren zu lassen«, rief der Museumsbeamte; »Sie können damit ein schönes Stück Geld verdienen.« »Still doch! Er will uns nur beweisen, daß er Nudelfabrikant gewesen ist«, sagte der Maler. »Ihre Nase ist also wohl eine Retorte?« ließ der Museumsbeamte nicht ab. »Re-was?« machte Bianchon. »Re-tusche.« »Re-doute.« »Re-klame.« »Re-vanche.« »Re-liquie.« »Re-mise.« »Re-norama.«
Diese acht Antworten schossen von allen Seiten herbei und erweckten um so stärkeres Gelächter, als der arme Vater Goriot die Tischgenossen mit blöder Miene anstarrte, wie einer, der sich müht, eine fremde Sprache zu verstehen.
»Re … ?« fragte er Vautrin, der neben ihm saß. »Realinjurie, mein Alter!« sagte Vautrin und versetzte dem Vater Goriot einen so kräftigen Schlag auf den Hut, daß dieser ihm bis über die Augen ins Gesicht hinabgetrieben wurde.
Der arme Greis, den der rohe Angriff erschreckt hatte, blieb einen Augenblick regungslos. Christoph nahm ihm den Teller weg in der Meinung, er sei mit der Suppe fertig, so daß Goriot, als er den Hut wieder emporgeschoben hatte und weiterlöffeln wollte, mit dem Löffel auf den Tisch aufschlug. Alles brach in Lachen aus.
»Herr,« sagte der Greis, »Sie sind ein übler Spaßmacher, und wenn Sie sich fernerhin derartige Angriffe gegen mich erlauben … « »Nun, was dann?« unterbrach ihn Vautrin. »So werden Sie das eines Tages schwer bezahlen müssen … « »In der Hölle, nicht wahr?« sagte der Maler, »in dem kleinen schwarzen Winkel, wohin die unartigen Kinder kommen.« »Nun, Fräulein,« sagte Vautrin zu Viktorine, »Sie essen nicht? Hat sich der Papa noch immer widerspenstig gezeigt?« »Oh, entsetzlich!« sagte Frau Couture. »Man muß ihm Vernunft beibringen«, sagte Vautrin. »Aber«, meinte Rastignac, der nahe bei Bianchon saß, »das Fräulein könnte doch einen Prozeß anstrengen auf Zahlung von Alimenten. – Hoho! Sehen Sie nur, wie Vater Goriot Fräulein Viktorine anstarrt!«
Der Greis vergaß zu essen, um das arme junge Mädchen zu betrachten, auf dessen Zügen ein wahrer Schmerz zu lesen war, der Schmerz des verkannten Kindes, das seinen Vater liebt.
»Lieber Freund,« sagte Eugen leise zu Bianchon, »wir haben uns in Vater Goriot geirrt. Er ist weder ein Dummkopf noch ein kraftloser Mann. Wende dein Gallsches System bei ihm an und sage mir, was du von ihm denkst. Ich habe ihn heute nacht eine Silberplatte wie Wachs zusammendrücken sehen, und jetzt eben prägt sich auf seinem Gesicht ein starkes Empfinden aus. Sein Leben erscheint mir geheimnisvoll genug, eines Studiums wert zu sein. Ja, Bianchon, lache nur, ich scherze nicht.« »Der Mann ist ein medizinischer Fall; abgemacht? Wenn er will, seziere ich ihn.« »Nein, vermiß ihm den Schädel!« »Werde mich hüten! Seine Dummheit könnte ansteckend sein.«
Am folgenden Tage kleidete Rastignac sich möglichst elegant und begab sich gegen drei Uhr nachmittags zu Frau von Restaud, indem er sich unterwegs all den tollen Hoffnungen hingab, die in das Leben eines jungen Mannes soviel köstliche Aufregung bringen Da sieht er denn weder Hindernisse noch Gefahren, sondern überall nichts als Erfolge, weiß sein Dasein durch das Spiel der Einbildungskraft zu erheben und ist unglücklich oder traurig, wenn seine Pläne zusammenstürzen, die doch nur in seinen zügellosen Wünschen lebten. Wäre solch junger Mann nicht unwissend und schüchtern, das soziale Leben würde unmöglich sein. Eugen nahm sich unglaublich in acht, um seine Schuhe nicht zu beschmutzen; aber er mußte nachsinnen über all das, was er Frau von Restaud sagen wollte; er stapelte Geist in sich auf, er erfand eine Unterhaltung, er legte sich sinnige Äußerungen zurecht, sammelte Redensarten à la Talleyrand und erhoffte tausend kleine günstige Gelegenheiten, um die Erklärung anzubringen, auf die er seine Zukunft gründete. Natürlich machte er sich arg schmutzig, der arme Student, und war genötigt, am Palais-Royal seine Schuhe putzen und seine Beinkleider bürsten zu lassen.
›Wenn ich reich wäre,‹ sagte er sich, als er ein Hundertsousstück wechselte, das er für den Notfall eingesteckt hatte, ›so hätte ich einen Wagen genommen; da hätte ich nach Herzenslust nachdenken können.‹
Endlich kam er also in der Rue du Helder an und fragte nach der Gräfin von Restaud. Mit der Beherrschung eines Mannes, der gewiß ist, eines Tages zu triumphieren, nahm er die verächtlichen Blicke der Bedienten hin, die ihn den Hof durchqueren sahen, ohne daß doch am Portal ein Wagen vorgefahren wäre. Diese Blicke trafen ihn um so empfindlicher, als er schon beim Betreten des Hofes seine eigene Armseligkeit erkannt hatte; denn hier stampfte ein prächtig aufgezäumtes Roß vor einem zierlichen Kabriolett, das von verschwenderischem Luxus und gewohnheitsgemäßem Genießen aller Pariser Glückseligkeiten zeugte. Er wurde übellaunig, grollte mit sich selbst. Die offenen Schubladen seines Hirnkastens, die er mit Geist angefüllt wähnte, schlossen sich, er fühlte sich dumm und unbeholfen. Während er im Vorzimmer die Antwort der Gräfin erwartete, der ein Kammerdiener die Namen der jeweiligen Besucher zu melden hatte, stellte Eugen sich an eines