Gulligold - Serienmorde in Münster. Michael Wächter

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Gulligold - Serienmorde in Münster - Michael Wächter

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Tubus haben, eventuell Stimmlosigkeit und Reizung der Stimmbänder“, endete er.

      „Vom Intubieren?“, fragte Martin ängstlich zitternd. „Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“

      „Doch“. Der Anästhesist zeigte ein breites Lächeln. „Die Rückenmarksbetäubung.“. Nun zählte er auch hier die Risiken auf. „… und im schlimmsten Fall könnten sie Querschnittsgelähmt sein“, endete er, „wenn das Rückenmark durch die Punktion getroffen wird.“

      Martin dachte an seine Frau, die eine Rückenmarkpunktion zur Betäubung vor der Geburt hatte machen lassen. An die Routine, die eine Klinik mit vielen Dutzend Geburten und Hunderten von OPs pro Woche haben musste.

      „Was würden sie an meiner Stelle machen?“, fragte er den Anästhesisten verwirrt.

      „Ich würde in jedem Fall die Rückenmarkpunktion wählen“, sagte dieser. „Sie haben dann nicht die Hals- und Kehlkopfschmerzen nach der Operation, und auch insgesamt hält die Betäubung länger an Und die Schmerzen kommen nicht so schnell und heftig wieder.“

      Martin wählte die Rückenmarkspritze. Er musste sich dazu noch mal hinsetzen musste. Der Anästhesist plauderte mit ihm weiter, als er ihn in den OP schob, und setzte die Unterhaltung auch noch fort, als ein grelles Licht anging und sein Unterleib mit Tüchern verdeckt wurde. Von dem, was die anderen Ärzte und Schwestern dann hinter den Tüchern machten, merkte Martin nichts mehr.

      

       Zugegeben, ich weiß: Es ist ungewöhnlich, einen Kriminalroman mit einem Mordfall UND mit einer Stuhlgangs-Geschichte zu beginnen. Aber so war es damals: Genau so ungewöhnlich wie der Anfang mit Hevelings Not-OP ist ja auch das Verbrechen. Und der Mensch, von dem ich diese Geschichte erzähle.

       Mein Name ist Titus Tim Tenfelde. Eigentlich bin ich auch nur ein ganz durchschnittlicher Psychotherapeut in einer durchschnittlichen, westfälischen Kleinstadt – der ehemaligen „Provinzialhauptstadt“ von Westfalen, nach der das schöne, grüne Münsterland benannt wurde.

       Ich betreue Traumapatienten, Opfer von Gewalttaten und ihre Angehörigen. Und ich hätte neben dem Mordfall sicher auch nichts Welt bewegendes zu berichten gehabt, wäre da eben nicht dieser ganz ungewöhnliche Patient gewesen. Er hatte etwas an sich, was mich faszinierte, je mehr ich ihn kennenlernte. Und so wurde er immer mehr zu meinem ganz persönlichen „Fall“, zu meinem ganz eigenen „Problem“, dieser Patient, den ich unbedingt wieder glücklich und gesund „kriegen“ wollte. Denn je mehr ich ihn kennenlernte, umso mehr spürte ich: Er hatte etwas für ihn Schlimmes erlebt und Wut im Bauch. Aber es hatte ihn auch heruntergezogen, seelisch. Und er war mir selbst ähnlich, charakterlich – und umso drängender wurde daher auch die Frage: Wieso ist er depressiv geworden und ich nicht? Und konnte ich ihm helfen, seine krankhafte Traurigkeit abzulegen, ihn wieder gesund und glücklich zu machen? Konnte er sich vielleicht sogar irgendwann irgendwie selbst aus dem Sumpf ziehen – ein therapeutisch initiierter Baron-von-Münchhausen-Effekt?

       Ich weiß daher noch genau, wie unsere erste Begegnung war. Er kam damals zu mir in die Praxis, als ich gerade über einem Tee saß (denn ich liebe Tees!). Ich legte die Gutachterberichte für die Krankenkassen und die Staatsanwaltschaft beiseite, stellte meine Tasse Earl-Grey-Tee beiseite und sah ihn an.

      „Guten Tag, Herr Tenfelde“, sagte er mit fast schluchzender Stimme, „Ich komme mit meinem Leben nicht mehr klar. Sie müssen mir helfen, ich weiß nicht mehr weiter, alles läuft schief!“

       Er war völlig aufgewühlt. Sein Kopf war hochrot angelaufen, er schwitzte und keuchte. Er weinte und wirkte wie ein hilfloses Kind, obwohl er ein gestandenes Mannsbild war.

       Ich beruhigte ihn.

      „Jetzt setzen sie sich erst mal!“, sagte ich langsam. „Möchten Sie einen Kaffee?“

      „Lieber Tee“, entgegnete er zu meiner Überraschung, „mit Milch und Süßstoff. Herr Tenfelde, ich komme mit meinem Leben nicht mehr klar“, wiederholte er, als ich nach einem zweiten Teesieb suchte, „ich hab‘ zwei Menschen weh getan und ich weiß nicht mehr weiter!“

       Und er schilderte mir seine Lage, seine ganze Geschichte wie ein Wasserfall. Er erzählte und erzählte, fasste seine traurigen Gefühle in bewegende Worte, redete sich die lang aufgestauten Kummerberge von der Seele, und sein damals hastig angetrunkener Tee wurde langsam kalt. Mir schien es fast, als müsse er erst einmal zu sich kommen, während er erzählte – fast so, als habe seine Seele einen Notfall gehabt, so dass operativ eingegriffen werden muss.

      

      Als Martin auf sein Krankenzimmer geschoben wurde, blieb er liegen, schloss die Augen und döste vor sich hin. Halsschmerzen hatte keine. Überhaupt: Er war einfach nur ein wenig müde (vom Beruhigungsmittel), und er hatte es hinter sich, dachte er.

      Eine Schwester kam und sah nach ihm. Dann döste er weiter. Der Anästhesist und der Chirurg kamen nach ihm, erkundigten sich nach seinem Befinden, und dann durfte er wieder weiterdösen. Dann bekam er etwas Wasser angeboten, eine Schmerztablette (Wofür?, dachte er noch) und er döste erneut.

      Nach einiger Zeit musste er aufs Klo. „Stuhldrang“ meldete er der herbei geklingelten Schwester, und wollte sich erheben.

      „Moment, sie hängen noch am Tropf!“, sagte diese. „Und ich muss erst dem Arzt Bescheid sagen!“, ergänzte sie.

      „Arzt? Ich ... – ach ja, die OP!“, sagte Martin und legte sich noch einmal hin.

      Der Art war eine junge Ärztin. Es hatte gerade einen Schichtwechsel gegeben. „Moment“, sagte sie, „ich schaue mal in ihre Akte!“. Sie überflog Zettel in einem Hefter, blickte wieder auf und sagte: „Sie haben noch einen Tampon hinten drin, den müssen wir erst ziehen!“

      „Einen Tampon? Ich bin doch keine Frau, verdammt!“

      „Ja, eine Saugbinde, die das Blut aufnimmt!“

      Es half nichts: Er hatte Stuhldrang. Er erhob sich, ging langsam in die Nasszelle des Krankenzimmers, den Tropf am Gestell mitschiebend, und bückte sich. Die Ärztin zog. Martin schrie einmal auf. Dann ließ sie ihn sich hinsetzen und lehnte die Tür an.

      „Kommen sie klar?“, fragte sie kurz danach.

      „Ja“, sagte Martin und drückte vorsichtig, obwohl nur ein wenig Blut kam und keinerlei Stuhlgang. Und als er etwas kräftiger drückte, sackte er, sich vor Schmerzen krümmend, auf dem Fliesenboden zusammen. Ein Tsunami von Schmerzenswellen überrollte seinen Körper. Er jammerte und schrie, rang nach Luft und kauerte auf dem Boden.

      „So schlimm?“, sagte die junge Ärztin. „Dann müssen wir ihnen noch etwas geben – ihre Betäubung lässt nach.

      Sie griff zu einer Spritze, steckte die Injektionsöffnung in den Zugang am Tropf und drückte die Flüssigkeit durch den Zugang in Martins Armvene.

      Nach zwei, drei Atemzügen war der Schmerz weg. Martin staunte über die Wirksamkeit des Betäubungsmittels. Er fühlte unendlich große Dankbarkeit für die Erlösung von den bisher schlimmsten Unterleibsschmerzen seines Lebens. Die Ärztin kam ihm fast wie ein Engel vor und er schwebte mit ihr durch irgendwelche Wolken und träumte Träume, wie sie vermutlich wohl nur von Morphinderivaten hervorgerufen werden können.

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