Erzählungen aus 1001 Nacht - 1. Band. Anonym
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Die Erzählung von dem Kaufmann und dem Dschinni
»Es wird berichtet, o glücklicher König, daß einst ein Kaufmann lebte, der großen Reichtum besaß und in mancherlei Städten Handel trieb. Nun stieg er eines Tages zu Pferde und zog aus, um an gewissen Orten Gelder einzuziehen, und die Hitze drückte ihn gar sehr; da setzte er sich unter einen Baum; und er griff in eine Satteltasche und zog gebrochenes Brot heraus und trockene Datteln und begann zu frühstücken. Als er die Datteln aufgegessen hatte, warf er die Steine kräftig fort, und siehe, es erschien ein Ifrit, riesenhaft an Statur, und er schwang ein gezücktes Schwert und nahte damit dem Kaufmann und sprach: ›Steh auf, daß ich dich erschlage, wie du mir den Sohn erschlugst!‹ Und der Kaufmann fragte: ›Wie habe ich dir den Sohn erschlagen?‹ Er aber antwortete: ›Als du Datteln aßest und die Steine fortwarfst, trafen sie meinen Sohn voll auf der Brust, da er vorbeiging, und er starb alsbald.‹ Sprach der Kaufmann: ›Wahrlich, aus Allah kamen wir, zu Allah kehren wir zurück. Es gibt keine Majestät, und es gibt keine Macht außer bei Allah, dem Glorreichen, Großen! Wenn ich dir den Sohn erschlug, so erschlug ich ihn aus Zufall. Ich bitte dich jetzt, vergib mir.‹ Versetzte der Dschinni: ›Es hilft nichts, ich muß dich erschlagen.‹ Und er packte ihn und schleppte ihn hin und warf ihn zu Boden und hob das Schwert, um ihn zu treffen. Da weinte der Kaufmann und sagte: ›Ich gebe mich in Allahs Hand,‹ und sprach die Verse:
Zweierlei Tage enthält die Zeit, die einen voll Segen, die andern voll Leid – Und zwei Hälften gehn in das Leben hinein, die eine voll Lust, die andre voll Pein.
Und wenn der Sturm in Wirbeln rast, scharf fegt und kräftig schlägt – So spürt den Schmerz der Spannung doch im Wald der Riese allein.
Der Bäume ernährt die Erde so viel, der Bäume, trocken und grün – Aber keiner klagt (nur, wer Früchte trägt) über einen geworfenen Stein.
Und Leichen steigen und schwimmen einher auf der Oberfläche der Flut – Während Perlen liegen, beleuchtet kaum von des Meergrunds blassem Schein.
Ungezählt steht am Himmel der Sterne Schar – Doch keinen deckte, nur Sonne und Mond, die Finsternis je ein.
Du lobtest die Tage, da gut es dir ging – Und zähltest nicht, die das Schicksal liebt, die Tage voll Schmerz und Pein.
Die Nächte gaben dir Sicherheit, und sie gab dir den Stolz – Aber Segen der Nacht und Seligkeit erzeugen Ächzen und Schrein.
Als nun der Kaufmann diese Verse gesprochen hatte, sagte der Dschinni zu ihm: ›Kürze deine Worte, bei Allah, ich muß dich erschlagen.‹ Aber der Kaufmann sprach: ›Wisse, o Ifrit, ich habe noch eine Schuld, die mir fällig ist, und vielen Reichtum und Kinder und ein Weib und Unterpfänder; drum erlaube mir, nach Hause zu kehren und eines jeden Ansprüche zu befriedigen, und ich will zu Beginn des neuen Jahres zu dir zurückkehren. Allah sei mein Zeugnis und meine Sicherheit, daß ich wiederkomme; und dann kannst du mit mir tun, wie du willst, und Allah hört, was ich sage.‹ Der Dschinni nahm ihm ein bindendes Versprechen ab und ließ ihn ziehen; so kehrte der Kaufmann in seine Stadt zurück, erledigte seine Geschäfte, gab allen, was ihnen gebührte, und nachdem er seiner Frau und seinen Kindern berichtet hatte, was ihm widerfahren war, ernannte er einen Verwalter und blieb ein volles Jahr bei ihnen. Dann aber erhob er sich, vollzog die Wuzu-Waschung, um sich vor seinem Tode zu reinigen, nahm sein Leichentuch unter den Arm, sagte den Seinen und all seinen Nachbarn und Anverwandten lebewohl und zog widerstrebend davon. Da begannen sie zu weinen und zu klagen und sich an die Brust zu schlagen; er aber wanderte, bis er im selben Garten ankam, und der Tag seiner Ankunft war der Beginn des neuen Jahres. Und als er dasaß und über sein Schicksal weinte, siehe, da kam ein Schaykh, ein sehr alter Mann, herbei, der eine gefesselte Gazelle führte, und er grüßte den Kaufmann und wünschte ihm langes Leben und fragte ihn: ›Weshalb sitzest du hier, und ganz allein, an dieser Stätte böser Geister?‹ Der Kaufmann aber erzählte ihm den Vorfall mit dem Ifriten, und der Alte, der Besitzer der Gazelle, staunte und sprach: ›Bei Allah, o Bruder, deine Treue ist nicht anders als überschwengliche Treue, und deine Geschichte gar seltsam; würde sie mit Sticheln in die Augenwinkel gestichelt, sie wäre eine Warnung für jeden, der sich warnen ließe.‹ Und er setzte sich neben den Kaufmann und sagte: ›Bei Allah, o mein Bruder, ich will dich nicht verlassen, bis ich sehe, was aus dir und diesem Ifriten wird.‹ Und als er saß und beide miteinander sprachen, da befielen den Kaufmann Furcht und Schrecken und äußerster Gram und untröstlicher Kummer und immer wachsende Sorge und letzte Verzweiflung. Und der Besitzer der Gazelle saß dicht neben ihm, und siehe, es näherte sich ein zweiter Schaykh, und bei ihm waren zwei Hunde, beides Windhunde und beide schwarz. Der zweite Alte grüßte sie mit dem Salam und fragte auch nach ihrem Woher und sagte: ›Weshalb sitzet ihr hier an dieser Stätte der Dschann?‹ Und sie erzählten ihm die Geschichte von Anfang bis zu Ende, und noch saßen sie nicht lange beisammen, als ein dritter Schaykh erschien, und mit ihm eine hellbraune Mauleselin; und er grüßte sie und fragte, weshalb sie hier säßen. Also erzählten sie ihm die Geschichte von Anfang bis zu Ende: und ohne Nutzen, o mein Herr, ist eine zweimal erzählte Geschichte! Da setzte er sich mit ihnen nieder, und siehe, eine Staubwolke rückte heran, und ein gewaltiger Sandteufel erschien mitten in der Wüste. Und die Wolke öffnete sich und darin war der Dschinni; er hielt ein gezogenes Schwert in der Hand, und seine Augen sprühten Funken der Wut. Und er trat zu ihnen und riß den Kaufmann aus ihrer Mitte und schrie: ›Steh auf, damit ich dich erschlage, wie du mir den Sohn erschlugst, das Leben meiner Leber‹. Der Kaufmann weinte und klagte, und die drei Alten begannen zu seufzen und zu schreien und mit ihrem Gefährten zu weinen und zu klagen, und der erste Alte, der Besitzer der Gazelle, trat vor, küßte dem Ifriten die Hand und sagte: ›O Dschinni, du Krone der Könige der Dschann! Wenn ich dir meine und dieser Gazelle Geschichte erzählte und du fändest sie wunderbar, gäbst du mir da ein Drittel vom Blute dieses Kaufmanns?‹ Sprach der Dschinni: ›Gut, o Schaykh, wenn du mir diese Geschichte erzählst und ich finde sie wunderbar, so will ich dir ein Drittel seines Blutes geben.‹ Da begann der Alte
Die Geschichte des ersten Schaykhs
Wisse, o Dschinni, diese Gazelle ist die Tochter meines Vaterbruders, mein eigen Fleisch und Blut; ich vermählte sie mir, als sie ein junges Mädchen war, und ich lebte mit ihr nahe an dreißig Jahre, aber ich wurde nicht mit Kindern von ihr gesegnet. So nahm ich mir eine Nebenfrau, die mir die Gnade eines Knaben schenkte, schön wie der volle Mond, mit Augen von lieblichem Glanz und Brauen, die eine einzige Linie bildeten, und mit Gliedern von vollendeter Zeichnung. Langsam wuchs er an Statur und wurde groß, und als er ein Bursche von fünfzehn Jahren war, wurde es nötig, daß ich in einige Städte reiste, und ich zog aus mit großem Vorrat an Waren. Aber die Tochter meines Oheims, diese Gazelle, hatte von Jugend auf die Zauberkunst und die dunklen Wissenschaften getrieben; und so verzauberte sie diesen meinen Sohn in ein Kalb, und meine Sklavin, seine Mutter, in eine Färse und übergab sie der Obhut des Hirten. Als ich nun nach langer Zeit von meiner Reise heimkehrte und nach meinem Sohn und seiner Mutter fragte, erwiderte sie mir und sprach: ›Deine Sklavin ist tot, und dein Sohn ist geflohen, und ich weiß nicht, wohin er gegangen ist.‹ So lebte ich ein ganzes Jahr mit bekümmertem Herzen und strömenden Augen, bis die Zeit kam für das große Fest Allahs. Da schickte ich zu meinem Hirten und hieß ihn für mich eine fette Färse wählen; und er brachte mir eine, das war das Mädchen, die Sklavin, die diese Gazelle verzaubert hatte. Ich schürzte mir Ärmel und Saum, nahm ein Messer und wollte ihr den Hals durchschneiden,