Nicht alle sehen gleich aus. Monica Maier
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Nicht alle sehen gleich aus - Monica Maier страница 12
„Scheiß Europa!“, riefen die Jugendlichen und lachten frech. „Scheiß Berlin!“
„Das muss man alles trennen, man kann doch nicht alles so frustriert durcheinanderwerfen hier!“, rief sie ihnen zu und wandte sich wieder an den älteren Herrn: „Wissen Sie überhaupt, woher er kommt und wo er wohnt? Mit all diesen Ländern hat er vielleicht ja gar nichts zu tun“, meinte Annika. „Ich finde Sie unverschämt, seien Sie doch mal nett in der U-Bahn!“ Der arabisch oder persisch anmutende Fahrgast blickte von seinem Handy hoch. Er verstand nur Bahnhof und wunderte sich.
„Vielleicht Afghanistan? Sie sind naiv, junge Frau. Ich kann nur hoffen, dass Sie da recht haben. Ich habe früher in der Ausländerbehörde gearbeitet. Sie sind doch sicher im sozialen Bereich tätig, oder?“, fuhr der Deutsche fort.
„Ich bin Lehrerin“, bestätigte sie ihm.
„Ach, auch ein schwerer Beruf, nicht wahr?“ Und als die Jugendlichen wieder zu kichern begannen, fügte er trocken hinzu: „Jugend von heute, was interessiert mich eure Meinung?“
Die anderen Fahrgäste starrten alle unberührt weiter vor sich hin oder aus dem Fenster, keiner schien sich für ihre Dialoge zu interessieren. Der junge Mann lächelte Annika zwischendurch ein paar Male gutmütig an, während sie mit dem Herrn diskutierte. Jedenfalls verstand er irgendwie, dass sie auf seiner Seite sein musste. Dann wandte er sich aber jedes Mal wieder aufs Neue seinem Handy zu und scrollte scheinbar cool die Seiten irgendeines sozialen Netzwerks hinunter.
„Ich kann mir, ehrlich gesagt, genau vorstellen, wie Sie in der Ausländerbehörde sitzen und die Menschen einfach mit einem Stempel ab- und ausweisen. Durch und durch Bürokrat und keine sozialen Kompetenzen. Afghanistan besitzt Lithium, Kupfer und andere Rohstoffe, aber kein wirklich gutes Bildungssystem. Und Deutschland hat fünf oder sechs Soldaten dort, vielleicht wegen der Bildung, aber wahrscheinlich eher auch wegen der Rohstoffe. Aber wenn uns jemand da angreift, dann schreit doch weltweit kein Hahn danach. Bei den Amis wäre das anders. Heute will in Europa keiner mehr Blut sehen, das ist die Wahrheit. Auch die Ausländerbehörde nicht. Kugelschreiber und PC reichen. Warum gehört für Sie eigentlich Afghanistan zu den sicheren Herkunftsstaaten? Haben Sie überhaupt eine Meinung dazu oder gehorchen Sie nur dem, was man Ihnen sagt?“, meinte Annika provozierend.
„Na 70 % des Landes sind sicher, 30 % unsicher, vielleicht habe ich da auch einen Zahlendreher drin und die Prozente waren 2015 genau andersrum. Ist ja schon etwas Zeit vergangen seitdem. Die Leute können innerhalb Afghanistans umziehen“, erwiderte der Deutsche. „Wenn die Bildung schon nicht so toll ist, dann kann ich doch woanders im Land auch als Schuster arbeiten“, sagte er. „Schuhe braucht man immer.“
Es wurde Annika schon peinlich, sich mit dem Mann überhaupt auseinandersetzen zu müssen: „Sie reden über Schuhe? Ich finde es das Schlimmste, dass immer noch mehr übers Meer wollen und müssen, wegen dem nie zu stillenden Bedürfnis nach Rohstoffen und der Waffenrüstung. Und da Europa auch keine an den Arbeitsmarkt adaptierte Lösung für die legale Einreise zumindest für die Menschen findet, die man hier beschäftigen könnte. Systemrelevant wäre möglich und das nicht nur im Niedriglohnsektor! Aber natürlich ist erst mal das Heimatland auch mit schuld, die verhökern ihre Bevölkerung im Nahen Osten, viel schlimmer als bei uns. Aber denken Sie doch mal lösungsorientiert und an die Korruption. Schauen Sie, Sie kennen den Mann ja gar nicht! Wie Sie den behandeln hier in Ihrem Privatleben, Sie sind doch nicht auf Arbeit!“
Endlich gab der ältere Herr klein bei, jedenfalls verzichtete er auf Widerspruch. Alles verstanden schien er nicht zu haben, dachte Annika, die eine gute Menschenkenntnis hatte. Egal!
„Vielleicht hat er zehn Geschwister, vielleicht keine. Vielleicht möchte er für seine zukünftigen Kinder eine bessere Perspektive finden, alles legitim. Sie funktionieren doch nur“, sagte sie noch und erhob sich wütend an der nächsten Station, an der sie raus musste. Sie sah noch, wie der Deutsche sich ohne weitere Worte sofort ihren Platz schnappte und sie dabei sogar noch anrempelte, ohne sich zu entschuldigen. Es war morgendliche Rushhour und daher inzwischen ziemlich voll geworden. Annika verabschiedete sich mit einem Lächeln von dem jungen Mann, der sie eingeschüchtert ansah und ein leises „Danke!“ von sich gab. Er musste wirklich verstanden haben, dass sie sich für ihn eingesetzt hatte, warum auch immer und vielleicht auch heftiger, als es für sie gut war. Dabei kam sie ihm so nahe, dass sie eine große Narbe auf seiner Stirn bemerkte. Er lächelte und sie musste an Folter denken. Ein leichter Schauer fuhr ihr den Rücken hinunter. Nach dem Überqueren der Straße im sonnigen Tageslicht stand Annika ein paar Minuten später direkt vor dem Eingang ihres Arbeitgebers. Sie sah nicht, dass der junge Mann auch ausstieg, hinter ihr den U-Bahnhof entlang- und die Treppen hochging.
Ohne Bildung geht nichts
Vor dem Bildungsträger „OBGN“ („Ohne Bildung geht nichts“) traf sie auf den 23-jährigen Pakistani Ali, der mit seinen Eltern und Geschwistern seit einem Jahr in Berlin lebte und bei ihr schon in der fortgeschrittenen B2-Klasse saß. Die Niveaus reichten von A1, A2 der Anfänger über B1, B2 bis zu den Besten mit C1 und C2. Er zog hektisch an seinem Glimmstängel und stieß sofort eine Rauchwolke aus, und das ohne Frühstück. Aber trotzdem erkannte er sie durch die Rauchschwaden und grüßte höflich: „Guten Morgen, Frau Annika, wie geht’s dir?“
„Danke, gut, und dir? Frau Leone oder Annika, du musst dich entscheiden“, erwiderte sie voller Energie, während sie genug Abstand hielt, um den Tabak nicht ins Gesicht zu bekommen. Sein auf der linken Wange vernarbtes Gesicht fiel ihr wieder auf. Es stammte von einer Bombe, wie er in der Klasse einmal erzählt hatte.
„Ich auch gut, Annika. Wie war Urlaub?“ meinte er.
„Danke, sehr schön, wenn auch etwas abenteuerlich, und bei dir? Wie war die letzte Woche?“, fragte sie.
Ali drückte die Zigarette jetzt mit seinem Turnschuh aus und sagte: „Alles in Ordnung. Meine Eltern haben neue Wohnung, wir sind nicht mehr in Heim. Und meine zukünftige Frau kommt nächste Monat aus Türkei, sie hat Visum, ich bin zu viel froh.“
„Endlich“, freute sie sich für ihn und den Familiennachzug, den er schon vor mehreren Monaten beantragt hatte. Er war wirklich ein lieber und freundlicher Kerl, dachte sie und wunderte sich schmunzelnd, dass er nicht wie sonst Verlobte sagte, die Vokabel von der zukünftigen Frau musste er sich neu bei Sibylle zugelegt haben. Die hatte sie vertreten, während sie in Marokko gewesen war. Im liberalen Berlin konnte man Lebensabschnittspartnerin meinen, aber für ihn war es wegen seiner traditionellen Erziehung sicher die Liebe seines Lebens. Das andere neudeutsche L-Wort „Leitkultur“ gefiel ihr noch weniger. All diese Willkommenskultur und Leitkultur würde in ihren Ohren wie Leithammel klingen, hatte einmal eine Schülerin zu ihr gemeint.
„Mein Problem immer noch die Deklination und schreiben!“, sagte Ali. Wie viele deutsche Schüler war er lieber mit dem Handy und Chatten als mit wahrer Textproduktion beschäftigt. Als ob ihr das jetzt neu wäre, er brauchte gar nicht so zu tun, dachte sie.
„Ich weiß. Nur Übung macht den Meister, du musst mehr schreiben, Sprache lernt man durch Sprechen und Schreiben durch Schreiben, Ali!“, ermunterte sie ihn schon zum x-ten Mal. Wenn er nachher wieder zu unkonzentriert im Unterricht sitzen würde und am Smartphone mit seiner Freundin, besser gesagt Verlobten oder vielmehr seiner zukünftigen Frau, chattete. Dann sollte sie ihm diesmal das Handy wirklich wegnehmen! Er lag ihr am Herzen und erst recht wollte sie, dass er es mit dem Deutschen endlich schaffte, weil er bisher eigentlich relativ fleißig war. Klar, er hatte eindeutige Konzentrationsschwächen, vielleicht schon als Kind, und er war leider mit seinem Smartphone verheiratet, ihre Meinung! Leider gehörte er zu