Nicht alle sehen gleich aus. Monica Maier
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Disharmonischer Umgangston
Annika drückte unten an der Haustür angekommen die Klinke herunter und trat flott auf die befahrene Straße. Dass schon wieder ein Billigflieger über ihr in einer der angesagtesten europäischen Partyhauptstädte hinwegdüste, zeigte ihr erneut, wie gut das neben den Start-up-Unternehmen mit größte Geschäftsmodell der an Industrie armen Stadt, nämlich der Tourismus, um diese frühe Uhrzeit funktionierte. Sie schüttelte den Kopf. Auch die, die nur ein Party- und vielleicht Drogenwochenende in Berlin verbringen wollten, waren erfahrungsgemäß darunter. Klar, Drogen gab es überall, aber der Senat tat Annikas Meinung nach nicht genug dagegen. Leider hatte die Stadtentwicklung rein gar nichts davon, ganz im Gegenteil: Nach dem Zudröhnen kam die Katastrophe in Kopf und ganzem Körper.
Vor dem U-Bahn-Eingang standen schon ein paar Betrunkene. Das war vor ein paar Monaten noch nicht so, woher die Obdachlosen wohl auf einmal alle kamen? Manchmal hätte sie gerne das Ordnungsamt angerufen, aber das in den Medien vielbeschworene Prekariat gehörte zu Großstädten einfach dazu. Sie ignorierte die Leute einfach und betrat den U-Bahnhof. Bis vor Kurzem war sie fast selbst noch ein Teil desselben gewesen, wenn auch auf andere Art als diese Alkoholleichen hier. Begriffe waren oft sehr dehnbar, dachte sie sich in typischer Deutschlehrerinmanier.
Nach einigen Minuten verschwand Annika in ihrem öffentlichen Verkehrsmittel unterirdisch durch den Prenzlauer Berg. Der Wechsel von einer teils älteren Bewohnerstruktur im Norden Pankows zur hipperen und jüngeren in dem direkt nach der Wende gentrifizierten südlicheren Prenzlauer Berg war deutlich festzustellen. Der kam ihr manchmal sogar etwas künstlich vor. Die ältere Bevölkerung war in den 90ern von dort ins nördlichere Berlin vertrieben worden, weil sie sich die Mieten plötzlich nicht mehr leisten konnte. Durch Urlaub und Ortswechsel sah man die Dinge wieder klar und realistisch, dachte Annika, die sich gerade sehr erholt fühlte.
Wer dem Trott des Berliner Nahverkehrs entfliehen wollte, der den Osten, Westen, Süden und Norden vereinte, fuhr Sommer wie Winter lieber auf dem Rad oder im Auto zur Arbeit. Ihr war der Weg zum Bildungsträger etwas zu weit. Aggressiver Verkehr, Ausfälle der Berliner Verkehrsbetriebe oder der Deutschen Bahn gehörten zum Alltag, was den Umgangston in der Stadt zurzeit oft verschärfte. Deutschland war nicht mehr, was es vor Privatisierungen der Bahn und Krankenhäuser, dem Euro und auch der Finanz- und Flüchtlingskrise einmal gewesen war. Die Leute in der Hauptstadt schienen im Moment gereizter als früher. Die Globalisierung stresste bekanntlich auch und das Smartphone ja ebenso. Wenn die betagtere Liga der Politiker nicht schnell genug mitkam, ein digitaler oder analoger Fehler wie auch ein wenig visionärer Misstritt nach dem anderen passierte, rasteten die Leute irgendwann aus. Davon waren Zeitungen und Medien im Moment nur so voll.
Annika hatte die Schönhauser Allee schon hinter sich gelassen, als sich an der Station Eberswalder Straße die Tür öffnete und ein älterer, mit einem wilhelminischen Schnauzbart gesegneter Herr eintrat, dem man seine schlechte Laune weswegen auch immer so richtig ansah. Eigentlich sollte man den Leuten in der U-Bahn vor allem in den Großstädten nicht in die Augen schauen, sonst bekam man nur Probleme oder negative Vibes ab, das wusste sie ja. Zu viel Verrücktheit war unterwegs. Nicht nur deswegen mied sie also seinen auf sie gerichteten Blick wie all die anderen Blicke der Mitfahrenden auch und sah lieber sicherheitshalber aus dem Fenster. Er hantierte etwas ungeschickt mit seinem Gehstock und streifte dabei versehentlich einen arabisch wirkenden jungen Mann, der mit seinem adrett geschnittenen Vollbart Annika seit der ersten Station schon gegenübersaß.
Jetzt stand er lächelnd auf, um dem älteren Herrn seinen Sitzplatz anzubieten und meinte: „Wollen sitzen?“ Annika blickte jetzt auf die beiden vor ihr.
Wie ein begossener Pudel stand der Senior da, so viel Höflichkeit gehörte scheinbar nicht zu seinem Alltag, und er antwortete trocken: „So alt bin ich nun auch wieder nicht!“ Sie schaute ihn irritiert an. Hatte sie sich verhört?
Yaser, Mbark oder wie er heißen mochte, verdiente das nicht. Auch wenn sein Satzbau nicht einer korrekten Grammatik gerecht wurde und er sich gerade outete, dass er somit also noch nicht das adäquate, vom Staat geforderte wie geförderte Deutschniveau erreicht hatte. Am liebsten hätte Annika den Mund aufgemacht, hielt sich aber zurück. Unverstanden wie verständnislos blickte der Mann, dessen Staatsangehörigkeit man eigentlich nur an der Sprache und seinem Akzent erkennen konnte, zurück auf sein Smartphone ins wahrscheinlich arabisch-deutsche Kommunikationsloch, das in diesem Fall nichts, aber auch gar nichts mit dem Islam zu tun hatte. Über die zwischenmenschlichen Nuancen hinweg blickte sie ungläubig auf den älteren Mann und erheischte ungewollt dessen Blick aus traurigen Augen. Dass nicht jeder die muslimische oder Religionszugehörigkeit überhaupt verstand, leuchtete ihr ja ein, aber wie kam er dazu, derart unhöflich auf das Angebot des jungen Mannes zu antworten? So was Provinzielles, sagte sie sich. Andererseits dachte sie ebenso empathisch wie instinktiv, dass der Herr frustriert sein musste, wovon auch immer. Auf alle Fälle war die deutsche keine Gesellschaft, in der das Alter wirklich was zählte und vielleicht kam er mit seinen geschätzt 75 Jahren nicht mehr ganz klar hier in der Gesellschaft oder lebte auch noch alleine in irgendeiner Erdgeschosseinraumwohnung? Berlin mit seiner Anonymität und seine Berliner Schnauze mit all ihrer Direktheit würden immer weiterexistieren, daran konnte und wollte sie nichts ändern. Obwohl sie beides manchmal nur zu sehr nervte.
Der ungefähr Zwanzigjährige in schwarzer Sporthose und Sweatshirt tat ihr fast leid, wie er ihr da so sympathisch und angegriffen gegenübersaß. Hatte er diese für sie schräge Situation überhaupt bemerkt? Annikas soziale Ader musste sie als Teil ihres kosmopoliten Charakters nicht verleugnen, und nicht selten war sie sich dadurch selbst zu empathisch. Aber sie nahm sich ein Herz, sprach den älteren Deutschen jetzt einfach an und blickte ihm dabei direkt in die grüngrauen Augen. Die warteten schon auf ihre Grauer-Star-Operation, wie er da vor ihr stand und sich verkrampft an der Stange festhielt.
„Warum nehmen Sie sein Angebot nicht an?“, fragte sie freundlich.
„Ich kann machen, was ich will, oder?“, erwiderte er so zickig wie zynisch. Hatte sie sich im Ton vergriffen? Eigentlich nicht.
Ein Teenager mit „Nazis raus“-Sweatshirt Aufdruck kicherte gerade ein Stück weiter hinten im Wagon lautstark mit seiner Clique: „Alter, ick ooch!“ Diese Schüler waren Einheimische, sah und hörte ja ein Blinder. Ob der junge Mann ein Syrer war? Oder ein staatenloser Palästinenser? Sie musste an die beiden aus der Nähe des Gazastreifens aus ihrer ehemaligen Klasse denken. Aber der ältere Herr fühlte sich natürlich provoziert und blickte ihn bösartig und frustriert von der Seite an.
Der verstand kein Wort von alledem,