Im Bann von covid-19. Peter Wolff
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Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Corona-Regeln hat viel damit zu tun, ob die Beschränkungen als ausgewogen, als gerecht empfunden werden.
Manche Lockdown-Maßnahmen scheinen widersinnig, unlogisch und letztlich nicht wirklich fair, wie der folgende Fragenkatalog zeigt:
Warum müssen Tattoo- und Massage-Studios schließen, während Friseure weiter öffnen dürfen?
Warum dürfen Gottesdienste stattfinden, aber Lesungen nicht?
Warum darf man sich einen Film nicht im Kino (mit Abstand zueinander) ansehen, wohl aber die DVD aus der Bibliothek holen?
Warum dürfen Restaurants Speisen außer Haus verkaufen, alkoholische Getränke wie Cocktails aber eher nicht?
Warum dürfen größere und mittlere Wirtschaftsunternehmen ihr Geschäft weiterführen, während Solo-Selbstständige aus dem Kulturbereich durch die aktuellen Regeln keine Chance dazu haben?
Warum dürfen sich mancherorts ein oder zwei Menschen nicht auf einer Parkbank ausruhen? Warum dürfen sie nicht auf der Grünfläche eines Parks in gebührendem Abstand zu anderen in der Sonne sitzen?
Warum sollten sich Menschen nicht in Restaurants, in einer Bar, in einer Kirche, Synagoge, Moschee oder sogar in einem Kino treffen und vergnügen können, wenn zwischen Stühlen, Tischen und Sitzreihen genügend Raum bleibt und ein geordneter Einlass und Ausgang möglich ist?
Warum wird jede touristische Beherbergung untersagt, während »notwendige Auswärtsübernachtungen erlaubt bleiben.
Warum müssen Restaurants, Kinos, Theater schließen, während man am Arbeitsplatz, zu dem man in vollen Bahnen und Bussen fährt, weiter acht Stunden täglich mit den Kollegen verbringen darf bzw. muss.
Warum wird der Amateursportbetrieb ausgesetzt, die Profis hingegen dürfen weiterhin sporteln, wenn auch ohne Publikum?
Warum soll auf “unnötige” private Reisen verzichtet werden, auf Geschäftsreisen und andere angeblich notwendige Reisen nicht?
Warum dürfen Händler mit Mischwarensortiment weiter Spielzeug verkaufen, während für Spielwarenläden ein Verkaufsverbot gilt?
Das sind eindeutig zu viele „Warums“, wenn Sie mich fragen. Eine wissenschaftliche Erklärung gibt es für all das nur in wenigen Fällen. Dem Virus ist es im schlimmsten Fall egal, ob es sich beim Hairstylisten verbreitet oder beim Tattoo-Künstler. Es macht leider auch keinen Unterschied zwischen Gottesdienst und Horrorfilm.
Es drängt sich die Vermutung auf, dass die „schwarze Liste“, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben, das Ergebnis vor allem politischer, und nicht in erster Linie wissenschaftlicher Erwägungen ist (63).
. So tut man sich augenfällig mit der Schließung von Kleinbetrieben leichter als mit dem Lockdown in wirtschaftskräftigen Großunternehmen.
Es ist zwar nicht gerecht, aber auf den ersten Blick scheint es durchaus logisch zu sein, dass die Beschränkungen die Gastronomie, das Hotelgewerbe und die Veranstaltungsbranche stärker treffen als etwa den Einzelhandel. Denn diese Branchen leben von der sozialen Interaktion und der Geselligkeit – und diese sind derzeit riskant, egal wie gut Hygienekonzepte befolgt werden.
Unverhältnismäßig erscheinen die Maßnahmen dann, wenn man diese Branchen weiter temporär stilllegt, obwohl zwischen Kunden ein notwendiger Sicherheitsabstand gewahrt werden könnte. Gastronomen, Veranstalter von Kulturevents, Kinobetreiber und Hoteliers werden so doppelt bestraft, denn sie haben mehrheitlich teure – und wirksame – Hygienekonzepte umgesetzt. Auch sind eben diese Bereiche, ebenso wie gastronomische Betriebe, bislang nicht als häufige Ansteckungsorte in Erscheinung getreten. Im Gegensatz zu Schulen oder dem Arbeitsplatz.
"Die Gastronomie ist bisher nicht als ein Hotspot erkannt worden", erklärt dazu der Kölner Virologe Rolf Kaiser im Oktober 2020.
Ob der drastische Schritt wirklich großen Einfluss auf die Infektionszahlen haben werde, sei zumindest zweifelhaft. Er könne sogar einen gegenteiligen Effekt haben, wenn sich das gesellige Leben wieder vollständig in den privaten Bereich verlagert.
Die Betroffenen fühlen sich völlig zurecht schikaniert.
Obgleich man in vielen Restaurants, Kinos, Konzertsälen oder Theatern Hygiene- und Abstandsmaßnahmen vortrefflich umgesetzt hat und bislang auch nicht bekannt wurde, dass sich hier Infektionen ausbreiten, werden Orte, die der Kultur, der Freizeit dienen, geschlossen, Geschäfte aller Art, von Baumärkten bis hin zu Modegeschäften oder Möbelhäusern hingegen bleiben zunächst geöffnet. Immerhin ist es ja kurz vor Weihnachten.
Schon jetzt stünden rund ein Drittel der Betriebe vor dem Aus, warnt der Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga). Eine weitere Zwangspause werde unzählige Existenzen zerstören (64).
Auch in anderen Bereichen, so wird man das Gefühl nicht los, wären eventuell mildere Maßnahmen denkbar. Statt die Schließung eines Fitnessstudios anzuordnen, könnte man die Zahl gleichzeitig Trainierender begrenzen, regelmäßig alle Sportgeräte desinfizieren und einen Mindestabstand zwischen eben diesen einhalten.
Selbst die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) spricht sich – gleichfalls im Oktober- in einem Positionspapier deutlich gegen "reflexhafte" Schließungen ausgesprochen. Sobald sich Verordnungen als "widersprüchlich, unlogisch und damit für den Einzelnen als nicht nachvollziehbar" darstellten, entstehe ein Akzeptanz- und Glaubwürdigkeitsproblem.
"Wir könnten diejenigen verlieren, die wir dringend als Verbündete im Kampf gegen das Virus brauchen", heißt es in dem Papier, zu dessen Unterzeichnern auch der Bonner Virologe Hendrik Streeck gehört (65).
Auch für die Potsdamer Soziologin und Risikoforscherin Pia-Johanna Schweizer sind die wichtigsten Faktoren im Kampf um die Akzeptanz: Transparenz und Nachvollziehbarkeit. In den Bundesländern werde zum Teil ein und dieselbe Faktenlage unterschiedlich ausgelegt. „Das verwirrt die Leute und führt zu Verdruss.“ Sie plädiert etwa für einen einheitlichen Umgang mit Risikogebieten.
Negativ auf die Akzeptanz wirkt sich auch aus, wenn Menschen das Gefühl haben, es werde mit zweierlei Maß gemessen. Ein Laienschauspieler beteuert, dass er kein Verständnis dafür hat, dass Fußballspielen im Verein erlaubt ist, aber das Theaterspielen nicht. „Solche Dinge sind unlogisch. Da wäre eine Vereinheitlichung dringend notwendig“, meint Schweizer (66).
Dem Gefühl, dass anlässlich der Corona-Beschränkungen bisweilen mit zweierlei Maß gemessen wird, kann man sich manchmal wirklich kaum entziehen.
Der zweite Lockdown im November fällt zunächst deutlich milder aus als der erste im März.
Zwar müssen wir wieder auf kulturelle Veranstaltungen, auf Pizza und Kölsch (es sei denn, man holt beides am unscheinbaren, aber vorzüglichen Stehimbiss „Pinocchio“ auf der Siegburger Straße in Köln-Poll, wärmstens zu empfehlen...) verzichten, aber die Geschäfte dürfen weiterhin ihre Kunden bedienen, Schulen und Kitas bleiben geöffnet.
Bei den Gaststätten hingegen bleibt man hart. Auch gut ausgetüftelte und stimmige Hygienekonzepte stimmen die Entscheider nicht gnädig und nutzen den vielen Gastronomen, die sich um eben diese bemüht haben, nichts. Weil gastronomische Betriebe, so die Argumentation, in besonderer Weise soziale Kontakte fördern.