Anna Q und die Suche nach Saphira. Norbert Wibben
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Anna mag es nicht glauben. Sie befindet sich seit dem Schuljahresbeginn vor vier Wochen in diesem Internat und hat bisher niemanden aus den höheren Jahrgängen gefunden, der mit ihr eine Partie spielen wollte. In ihrer Klasse haben die meisten nur Interesse an Fußball oder an Rudern. Zu älteren Schülern hat sie bisher keinen Kontakt und weiß also nicht, wer von ihnen in Frage käme. Deshalb war sie froh, durch Zufall das nachmittägliche Treffen einiger Schachspieler im Speisesaal mitbekommen zu haben. Seitdem versuchte sie, gegen Alexander zum Zug zu kommen. Erfreut lächelt Anna Zustimmung.
»Sagst du mir zuerst deinen Namen, bitte?«
»Ich bin Robin Jury.«
»Ich freue mich, dich kennenzulernen!«, antwortet das Mädchen mit ernstem Gesicht. »Ich werde Anna Q genannt.«
»Einfach nur Q?« Der Junge schaut sie ungläubig an.
»Ja!«, ist die kurze und energische Antwort. Obwohl ihr Name Anna Qwentiz ist, kürzt sie den Nachnamen immer ab. Früher wurde sie wegen ihres Namens von Mitschülern gehänselt und musste darüber oft weinen. Auch wenn sie sich heute besser als in der Grundschule unter Kontrolle hat, will sie das möglichst vermeiden. Außerdem wirkt das »Q« geheimnisvoller, wie sie findet. Und die Praxis gibt ihr recht, da das durchaus zu einem positiven Interesse der Mitschüler führt. Robin verkneift sich eine Nachfrage, da er ihr nicht glaubt, unterlässt es dann aber doch. Ein leises Schmunzeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.
»Dann bin ich Robin J. oder einfach Robin, einverstanden?«
Das Mädchen zweifelt einen Moment, ob er sich über sie lustig machen will, entscheidet sich dann aber dagegen.
»Nenn mich Anna, das Q ist nicht so wichtig! – Ich habe gesehen, dass du nicht schlechter als Alexander spielst. Meiner Meinung nach zögerst du manchmal zu lange. Das wirkt so, als ob du davor zurückschrecken würdest, den Champion zu stürzen.«
Sie haben mittlerweile den Eingang zur Bibliothek erreicht und öffnen die schwere Eichentür. Galant überlässt der Junge dem Mädchen den Vortritt.
»Das trifft es nicht. Ich habe nur keine so große Spielpraxis und bin deshalb oft unsicher.«
Robin und Anna verschaffen sich einen schnellen Überblick in dem Raum. An vielen Tischen sitzen Schüler, die unterschiedlich hohe Bücherstapel angehäuft haben. Sie lesen und notieren sich hin und wieder etwas in mitgebrachte Kladden. Sie heben nicht einmal die Köpfe, als die schwere Eichentür mit einem leisen Geräusch geschlossen wird.
Im hinteren Bereich sind viele Regalreihen zu sehen, die bis zur Decke reichen. In ihnen steht wohlgeordnet der große Bücherbestand der Schule. Dieses Gebiet wird durch ein davor befindliches Geländer vom Lesesaal abgegrenzt. Dort entdecken die beiden vier freie Tische. Robin gibt Anna das Schachspiel. Er fordert sie auf, sich einen Platz auszusuchen und dort schon einmal die Figuren aufzustellen. Er steuert währenddessen auf den Tresen in der Mitte des Geländers zu, von wo ihnen die Bibliothekarin entgegenschaut. Er informiert die streng blickende Frau über ihre Absicht und bekommt sofort die Genehmigung.
Eine Schachpartie
Der große Gong erklingt zum zweiten Mal. Alle Schüler und Professoren werden damit dringend zur Abendmahlzeit gerufen, doch Anna und Robin überhören ihn. Alle anderen Besucher des Lesesaals haben diesen bereits beim ersten Ton verlassen. Die Bibliothekarin kommt hinter der Abgrenzung hervor und geht zum letzten noch benutzten Tisch. Helle Augen schauen durch große Brillengläser auf das Schachbrett. Sofort heben sich ihre Augenbrauen in die Höhe. Sie hüstelt kurz, aber auch das holt die beiden Spieler nicht in die Gegenwart.
»Der Gong hat bereits zweimal gerufen. Wer beim dritten Mal nicht im Speisesaal sitzt, bekommt heute nichts mehr!« Nur widerwillig blicken die Schüler auf. Sollen sie für eine derartige Nebensächlichkeit wie Essen ihr spannendes Spiel unterbrechen? Derzeit ist es ausgeglichen! »Wie lauten eure Namen, und in welchem Jahrgang seid ihr?«, fordert die Frau mit gewohnter Autorität in der Stimme. Bekommen sie jetzt gleich einen Verweis? Robin will es nicht glauben und Anna versteht nicht, weshalb die hellgrauen Augen sie durch die Brille derart seltsam anblicken.
»Aber, Frau Professor«, beginnt der Junge, »sie kennen mich doch. Wir sind wirklich leise gewesen und haben niemanden gestört.«
»Name und Klasse. Ich frage nicht noch einmal!« Die Aufforderung klingt verdächtig danach, dass gleich eine Strafe folgen wird, wenn sie nicht gehorchen. Der Gesichtsausdruck ist streng und wird von dem Knoten am Hinterkopf, mit dem das schiefergraue Haar zusammengehalten wird, zusätzlich unterstrichen.
»Robin Jury, dritter Jahrgang.« Das Gesicht blickt abwartend zum Mädchen. Die hagere Gestalt der Professorin wird kerzengerade gehalten und bewegt sich bis auf den Kopf nicht.
»Nun du!«, fordert sie. Der Gong erklingt zum dritten Mal und übertönt das Schluckgeräusch, mit dem die Schülerin einen Kloß hinunterwürgt. Was wird jetzt folgen?
»Anna Q, erster Jahrgang«, flüstert sie fast. Doch die Bibliothekarin hat sie gut verstanden.
»Auch wenn Jugendliche im Wachstum nicht auf ein Abendessen verzichten sollten, gibt es offenbar Wichtigeres für euch!« Diese Feststellung wird mit nachdenklicher Stimme gesprochen. Ist das jetzt alles gewesen? Die Schüler blicken sich verwundert an. Warum klang die Frage nach Namen und Jahrgang dann so barsch? Professor Morwenna Mulham wirkt kurzzeitig abwesend. Überlegt sie, welche Strafe angebracht ist, obwohl sich Robin keines Vergehens bewusst ist? Annas Augen ruhen fragend auf dem Jungen. Sie ist erst seit wenigen Wochen hier und nicht sicher, mit dem Fernbleiben vom Abendessen möglicherweise eine ihr unbekannte Schulregel gebrochen zu haben.
»Ihr solltet weiterspielen. Ich schließe nur schnell die Tür ab, da die Bibliothek jetzt offiziell geschlossen ist.« Sie kehrt um, geht zum Eingang und dreht den großen Schlüssel. Danach kommt sie zurück und zieht sich einen Stuhl heran. »Wenn ihr erlaubt, werde ich mir euer Spiel ansehen!« Die Bibliothekarin macht es sich bequem. Nach kurzem Zögern konzentrieren sich die Schüler erneut und versuchen, zu ihrer ursprünglichen Strategie zurückzufinden. Nicht lange, und sie haben ihre Beobachterin völlig vergessen. Morwenna verfolgt aufmerksam die Spielzüge. »Erster und dritter Jahrgang! Das ist gut, sehr gut! – Ob sie aber auch geeignet sind? – Hm. Das war jetzt raffiniert, dabei wirkt diese Anna so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte. – Der Gegenzug war gut gekontert. Ich bin fast sicher, hier sitzen fähige Talente vor mir.« Ihre Gedanken äußert sie nicht.
Nach langem Überlegen setzt Anna einen Läufer, der einen gegnerischen Bauern schlägt. Robin zieht einen Springer, der diesen Stein bedroht. Schnell wird der aus dem Gefahrenbereich gebracht, da schlägt das gegnerische Pferd ihre Dame. Das Mädchen zieht eine Augenbraue hoch und ärgert sich, weil es die Falle nicht vorhergesehen hat. Es dauert noch mehrere Spielzüge, dann endet die Partie schließlich unentschieden. Die Professorin kommentiert das lediglich mit einem: »Gut!« Sie schiebt ihren Stuhl unter den Tisch zurück, von wo sie ihn vor zwei Stunden herangezogen hat. Anna bedankt sich mit geröteten Wangen für die Partie bei ihrem Gegner, dann legen beide die Figuren in das klappbare Schachspiel. Anstatt es zu schließen, verharrt der Junge. Anna bemerkt, dass er in Gedanken versunken ist.
»Robin, was ist los?« Das Mädchen erhebt sich und wartet auf Antwort. Sie widersteht der plötzlichen Regung, ihm die Schulter zu klopfen. Das würde er vermutlich als herablassenden Aufmunterungsversuch missverstehen.
»Du spielst wirklich