Anna Q und die Suche nach Saphira. Norbert Wibben
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Читать онлайн книгу Anna Q und die Suche nach Saphira - Norbert Wibben страница 6
»Entschuldigung. Ich war in Gedanken … Ich bin Anna Q. Warum meinst du, dass ich Glück habe, nur wegen der Aussicht?«
»Nein, obwohl sie wirklich schön ist. Aber es gibt einen weiteren Grund. Die anderen belegen zu dritt ein Zimmer. Na ja, manche auch nur zu zweit, aber du hast ein Einzelzimmer.« Anna erinnert sich, dass sie nicht sicher war, ob das ein Vorteil ist, doch inzwischen stimmt sie Caitlin zu. Der Raum ist kleiner als die Viererzimmer und eigentlich für zwei Bewohner ausgelegt. Es erinnert das Mädchen mittlerweile an sein Zimmer zuhause. Die Fotografien ihrer Mutter und Großmutter, aber besonders die ihres Vaters, tragen erheblich dazu bei. Sie hängen über ihrem Schreibtisch, so dass ihr Blick oft darauf haften bleibt.
Anna hat sich mittlerweile an die vielen Treppenstufen gewöhnt und ist kaum merklich außer Atem, als sie in ihr kleines Reich tritt. Das verpasste Abendessen lässt ihren Magen vernehmlich knurren. Ihr Blick schweift sofort zum Bild des Vaters und von dort zu einer Schale auf dem Schreibtisch. Darin liegen zwei Äpfel und eine Banane. Beim Frühstück ist es den Schülern erlaubt, sich Obst für den Tag mitzunehmen, was Anna gerne nutzt. Zu den Hauptessenszeiten verspürt sie noch oft einen Knoten im Magen, der vermutlich von der Trennung vom Vater herrührt. Doch es wird langsam und von Tag zu Tag besser. Sie fühlt sich manchmal wie beim letzten Ausflug ihrer Grundschulzeit, als sie für fünf Tage in einer Jugendherberge einquartiert waren.
Anna schnappt sich die gelbe Frucht, öffnet die Schale und beißt hungrig ein Stück ab. Kauend wirft sie einen Blick nach draußen in den Park. Ein Schauer läuft über ihren Rücken, als sie ein lautes Kreischen vernimmt. Was ist das? Sie legt die angebissene Banane auf die Schreibunterlage, öffnet einen Fensterflügel und beugt sich etwas hinaus. Sie horcht angestrengt. Von wo mag das gekommen sein, und vor allem, was war die Ursache?
Lauert innerhalb des mit Mauern und Toren umgrenzten Gebiet des Internats eine Gefahr auf die Schüler? Anna verspürt einen stechenden Schmerz im Kopf. Es fühlt sich an, als ob ein glühendes Messer zu einem Auge hinein, quer durch ihren Schädel stoßen würde.
»Hoffentlich bekomme ich keine Migräne!« Anna schwankt etwas und kneift die Augen zu. Eine derart heftige Attacke hatte sie noch nie. Plötzlich ist der Schmerz wieder vorbei. Sie atmet erleichtert auf. Als erneut ein schrilles Kreischen erklingt, richten sich ihre Nackenhärchen auf. Sie holt mehrmals kontrolliert Luft, um nicht in Panik zu fallen. Obwohl das Schreien lauter als bei geschlossenem Fenster gewesen ist, kann Anna das Geräusch nicht zuordnen. Trotzdem ist sie sicher, das klingt nach einem verängstigten Tier. Sollte ein nächtlicher Greifvogel eine Maus gefangen haben? Doch für eine Maus war das Kreischen zu laut, zumal eine Eule ein Opfer schnell tötet. Das Mädchen versucht, mit weit geöffneten Augen draußen etwas zu erkennen. Die Dämmerung ist mittlerweile in eine stockfinstere Nacht übergegangen, auch Sterne sind nicht mehr am Himmel zu sehen. Nach der Hitze des Tages zogen am Nachmittag erste Wolken auf. Auf ihrem Weg durch den Park bemerkte Anna die Schwüle, die ein heraufziehendes Gewitter ankündigt. Aber das Geräusch eben war kein entfernter Donner, es klang wie ein Schrei in höchster Not. Soll sie ihre Taschenlampe aus dem Schreibtisch nehmen und draußen nach der Ursache forschen? Etwas in ihr drängt sie, also gibt sie nach kurzem Zögern nach. Sie will zumindest in der näheren Umgebung um das Gebäude nach der Ursache suchen. Den gesamten Park wird sie nicht durchstöbern können, der ist zu weitläufig.
Auf dem Weg die Treppenstufen hinab, beruhigt sich das Mädchen. Gefährliche Raubtiere gibt es in der Region nicht. In den Nachrichten wird zwar von einer wachsenden Zahl von Wolfsrudeln im Land berichtet, aber so weit im Westen sind bisher keine gesehen worden. Außerdem müssten diese Räuber erst Mauern und Tore überwinden, was ihnen sicher unmöglich ist.
Einige Schülerinnen wundern sich, wohin Anna so spät am Abend will. In einer Viertelstunde müssen besonders die Erstklässler im Gebäude sein, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, eine Strafarbeit aufgebrummt zu bekommen. Anna lässt sich nicht beirren, lächelt und nickt ihnen zu. Dann schließt sie die Außentür hinter sich. Mit klopfendem Herzen steht Anna lauschend davor. Sie orientiert sich kurz und begibt sich dann zu der Giebelseite, in der sich ihr Zimmerfenster befindet. Erneut erklingt ein Kreischen. Es kommt von der Seite, ist sie sicher. Sie lässt die Taschenlampe aufleuchten und sucht mit dem hellen Lichtkegel nach der Ursache. Das Geräusch klang so, als ob es aus der Nähe, aber irgendwie gleichzeitig von unten, fast wie aus der Tiefe kam. Erneut läuft ein Schauer über ihren Rücken. Am Rande des Lichtkegels bemerkt sie eine plötzliche Bewegung. Sie erschrickt derart, dass ihr die Taschenlampe aus der Hand fällt. Sie landet auf dem Weg und sendet den Lichtstrahl in ein Gebüsch. Anna atmet aufgeregt. Was ist das dort? Nach wenigen Augenblicken meint sie, zu träumen. Unter einem Haselbusch wurde eine Durchlauffalle aufgestellt. Das können der Gärtner oder der Hausmeister gewesen sein. Aber anders als beabsichtigt, wurde darin keine Ratte oder ähnliches Getier gefangen, sondern ein großer, schwarzer Vogel. Das Mädchen hält den Atem an, greift sich die Taschenlampe und leuchtet mit ihr nicht direkt auf das verängstigte Tier. Das kreischt laut und versucht mit den Flügeln zu schlagen, was wegen der Enge der Falle jedoch unmöglich ist.
»Schsch!« Anna will mit leiser Stimme den aufgeregten Vogel beruhigen. »Ich lasse dich sofort frei, du musst nur ruhig sein.« Sie bückt sich und kriecht vorsichtig in das Gebüsch. »Hoffentlich wurde das arme Tier nicht verletzt, möglicherweise an einem Flügel«, denkt sie bekümmert. Sie schirmt den Lichtkegel etwas mit der Hand ab, um den Mechanismus der Falle zu erkunden, ohne den darin Gefangenen zu blenden. Sie versucht dabei immer wieder, den Vogel mit »Schsch« zu beruhigen, was offenbar erfolgreich ist. Er hat aufgehört mit den Flügeln zu schlagen, kollert mit tiefer Stimme und klappert mit den Augendeckeln. Sollte er verstehen, was Anna versucht? Endlich gelingt es ihr, die Sicherung der Eingangsklappe zu entriegeln. Sie schiebt das Gitter nach oben. »Komm heraus, mein Freund. Aber sei mit den Flügeln vorsichtig, der Ausgang in die Freiheit ist reichlich eng.«
Das Tier legt den Kopf schräg, klappert zweimal mit den Augendeckeln und kommt langsam auf Anna zu. Sie versucht nicht, ihm durch die schmale Öffnung zu helfen. Das könnte ihn ängstigen oder zurückscheuchen. Außerdem weiß sie nicht, wo sie das Tier anfassen sollte, also wartet sie ab und redet ihm gut zu. Tatsächlich schafft es der große Vogel allein, hinauszukommen. Er krächzt einmal leise, fast so, als ob er sich bedanken wolle. Dann huscht er tiefer unters Gebüsch und Anna lässt die Falle wieder zufallen. Sie will verhindern, dass erneut ein Tier darin gefangen wird. Seufzend richtet sie sich auf und fährt erschrocken zusammen. Ein heftiger Donnerschlag zeugt von dem beginnenden Gewitter. Die ersten, dicken Regentropfen fallen, ein Blitz zuckt grell über den Himmel und erneut droht ein tiefes Grollen. Anna hastet zurück ins Haus. Sie ist froh, den Vogel aus seinem Gefängnis befreit zu haben. Bei dem Gewitter wäre er in der engen Falle vermutlich vor Schreck gestorben. Dass Kolkraben einerseits, dieser aber im Besonderen, keineswegs so zart besaitet sind, weiß sie nicht. Trotzdem ist eine Nacht in Freiheit einer in Gefangenschaft immer vorzuziehen, egal von welcher Kreatur!
Ein seltsamer Traum
Anna liegt noch längere Zeit wach in ihrem Bett. Das ängstliche Kreischen des Vogels taucht immer wieder in ihrem Kopf auf, während die Regentropfen gegen das Fenster trommeln und Blitze in unregelmäßigen Abständen den Raum erhellen. Bei jedem einzelnen Donner zuckt das Mädchen zusammen. Sein Vater Aedan hat ihm einmal erklärt, was bei einem Gewitter passiert. Besonders im Sommer, wenn die Hitze warme Luft aufsteigen lässt, wird auch Feuchtigkeit aus dem Boden oder Gewässern mitgerissen.