Die erfundene Armut. Alex Bergstedt

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Die erfundene Armut - Alex Bergstedt

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(also 60 Prozent davon) bei 3420 Euro liegen. Somit seien unverändert 20% der Einwohner arm.“

      Der Pastor weigert sich jedoch, den Mann seine Sicht der Dinge im Kirchenblatt veröffentlichen zu lassen, und so tut er sich in dieser Not mit den drei AfD-Anhängern des Dorfes zusammen, und sie bezahlen eine Anzeige in der Lokalzeitung, in der sie die Rechnung veröffentlichen, mit der sie zweifelsfrei nachweisen, dass die Armut keineswegs abgenommen habe, wobei sie noch darauf hinweisen, dass die „Mainstreammedien“ (damit meinen sie das Kirchenblatt) diese Tatsache verschweigen.

      Aber die Euphorie über das geschenkte Geld ist so groß, dass die Menschen nichts davon wissen wollen; stattdessen bestellen sie bereits Waren auf Kredit. Da sie Angst haben, der Milliardär könnte über die Anzeige der vier Nörgler verärgert sein und seine Spenden einstellen, veröffentlichen sie ihrerseits eine Anzeige, in der sie ihre tiefe Dankbarkeit ausdrücken, den Milliardär zu Besuch einladen und ihm die Ehrenbürgerschaft antragen. Einige Bürger taten sich sogar zusammen, besuchten die vier Nörgler und beschworen sie, still zu halten, damit der Milliardär auch weiterhin seine Spenden beibehalte.

      Der Besuch des Milliardärs in dem Dorf ist ein voller Erfolg, und durch die Sympathie der Menschen, die Ehrenbürgerverleihung, die Blumenüberreichung und die damit verbundenen Umarmungen durch drei Kinder sowie ein Konzert in der Kirche zu seinen Ehren ist der Milliardär tief berührt, und einige Wochen später kündigt er an, das riesige historische Pfarrhaus, in dem zur Zeit kein Pfarrer mehr wohnt und welchem der Verfall droht, aufzukaufen und zu restaurieren. Er werde in einem Teil ein kostenloses Bücher- und Medienzentrum für das Dorf einrichten, und Bürgermeister und Kirche könnten die Räume im Erdgeschoss kostenlos für die Belange der Gemeinde nutzen.

      Der Milliardär selbst würde das Obergeschoss bewohnen. Er ist alleinstehend, lebt relativ bescheiden, verpflichtet aber eine Frau aus dem Dorf, die ihm der Bürgermeister auf seine Bitte hin als zuverlässig empfiehlt, für ein großzügiges Gehalt als Haushälterin.

      Als jedoch die nächsten Kommunalwahlen herannahen, gründen die vier Nörgler eine eigene Partei, die BfuD (Bürger für unser Dorf). Sie prangern die große Armut in ihrem Dorf an.

      Die 100 Alt-Einwohner des Dorfes haben im Schnitt wie bereits früher berechnet 5700 Euro verdient, nur die Haushälterin erhält mit satten 10.000 Euro deutlich mehr als zuvor und ein Bauer, der dem Milliardär frische Produkte liefert, hat daran einige Hundert Euro verdient. Der Milliardär verdient hingegen mit seinem Großunternehmen 100 Millionen im Monat. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt, wie rechnerisch einwandfrei nachgewiesen werden kann, nunmehr bei rund 996.000 Euro. 60% davon sind 597.000 Euro, so dass alle Bürger dieses Dorfes mit Ausnahme des Milliardärs weit unter dieser Armutsschwelle liegen und als bitterarm gelten müssen.

      Die neue Partei fordert eine gerechtere Verteilung des Geldes und gewinnt fünf neue Mitglieder.

      Als Nächstes prangern die Kritiker die Tatsache an, wie der Bürgermeister der Haushälterin den lukrativen Job bei dem Milliardär verschafft habe. Anstatt die Stelle öffentlich auszuschreiben, so dass jeder sich hätte bewerben können, habe der Bürgermeister eine Frau empfohlen, die früher seine Schulfreundin gewesen sei, eine unerträgliche Kungelei und Vetternwirtschaft, man forderte den Rücktritt des Bürgermeisters.

      Schließlich prangerte man noch an, dass ausdrücklich eine Frau angefragt war; damit sei das Gebot der Geschlechtergerechtigkeit verletzt worden, da Männer von vornherein ausgeschlossen gewesen waren. Alle Männer, so forderte man, müssen eine Entschädigung gezahlt bekommen.

      Die Partei bekam Auftrieb und stellte fest, dass der Milliardär mehrfach in der Türkei und in anderen islamischen Ländern Urlaub gemacht habe. Dazu passte es, dass man bemerkte, dass in dem Medienzentrum auch ein Koran zu finden war. Vergeblich wies der Pastor darauf hin, dass es dort auch drei Bibeln, das Kapital von Marx und ein Buch über Zarathustra gebe. Viele Bürger bekamen Angst, dass der Milliardär heimlich eine islamische Unterwanderung des Ortes plane, und so geschah es, dass die BfuD die Wahl gewann und den neuen Bürgermeister stellte.

      Dem Milliardär gefiel das nicht. Er verlegte seinen Hauptwohnsitz nach Monaco, entließ die Haushälterin und stellte seine Spenden ein. Damit verdienten alle Bürger wieder dasselbe wie früher. Sie hatten zwar in den vergangenen Monaten ihren Besitz durch viele Anschaffungen vergrößern können und verfügten nun über neue Boote, Fernseher usw., aber viele hatten sich an das viele Geld und das großzügige Ausgeben gewöhnt und oft auch auf Kredit größere Anschaffungen gemacht und hatten nun Schwierigkeiten, wieder mit der Hälfte des Einkommens auszukommen.

      Die PfuD konnte hingegen nach einem Jahr eine positive Bilanz ihrer Arbeit veröffentlichen: „Armut in unserem Dorf bereits um 80% gesunken. Nur noch 20% liegen unterhalb der Armutsgrenze.“

      Diese Geschichte ist sicherlich ein drastisches und daher satirisch anmutendes Beispiel, aber es wirft ein bezeichnendes Licht darauf, wie irreführend solche Statistiken sein können, wenn bestimmte Leute sie für ihre Zwecke benutzen, und wie unsinnig manche Methoden zur Berechnung der Armut sind. So kann es nach solchen Berechnungen in einem reichen württembergischen Dorf, in dem die Menschen zwischen 5000 und 20.000 Euro verdienen, mehr Arme geben als in einem abgelegenen armen pommerschen oder brandenburger Dorf, in dem die Menschen 1500 bis 2500 Euro verdienen.

      Welches ist der Bezugsraum zur Berechnung der Armutsstatistik?

      Ohnehin müsste als erstes definiert werden, welches der Bezugsbereich bei der Berechnung der Armut und der 60% sein soll. In der Geschichte von dem Hotelier und den zwanzig Eingeborenen war es eine Insel. Wenn die Insel abgelegen und abgeschieden ist, ist das ja eigentlich sinnvoll. Würde man stattdessen den gesamten Staat als Bezugsbereich zur Ermittlung der 60% vom Durchschnittseinkommen betrachten, hätten wir eine weitere absurde Situation für die Inselbewohner: Liegt sie in der Karibik und gehört zu Haiti oder Kuba, wären die Bewohner mit 100 oder 200 Euro monatlich keineswegs arm. Gehörte sie jedoch zu Frankreich oder England als kleiner Rest aus dem ehemaligen Kolonialreich, müsste man die Bewohner als bitterarm ansehen, obgleich sie genauso leben würden wie als Haitianer oder Kubaner. Sollten England oder Frankreich die Insel eines Tages an ein nahebei gelegenes Land übergeben, wie es mit Honkong geschehen ist, würden alle Bewohner plötzlich reich sein, obwohl sich de facto das Leben für sie keineswegs verbessert hätte. Würde Argentinien die Falklandinseln erobern, wie sie es bereits im Falklandkrieg gegen England versucht haben, könnten sich die Bewohner ebenfalls glücklich schätzen, denn sie wären zunächst einmal alle reich, da sie mehr verdienen als die Argentinier. Also ist es viel zu pauschal, den ganzen Staat zum Vergleich heranzuziehen.

      In der letzten Geschichte war der Bezugsraum dagegen das Dorf. Der Bürgermeister hätte die Kritik des BfuD leicht durch Anwendung eines anderen Bezugsraumes kontern können, indem er z.B. das durchschnittliche Einkommen in Schleswig-Holstein zur Grundlage genommen hätte. Im Landesvergleich hätten dann die Bewohner seines Dorfes alle recht gut abgeschnitten. Das Gleiche gälte, wenn man den Bereich für die Statistik der Armut auf ganz Deutschland ausgeweitet hätte.

      Noch besser hätte das Dorf abgeschnitten, wenn man als Bezug die Europäische Union oder gar die ganze Welt zugrunde gelegt hätte. Im letzteren Falle würden alle Dörfler zu den reichsten 10% der Weltbevölkerung zählen, also zu den Superreichen.

      Welches ist dann aber eine angemessene Bezugsgröße zur Berechnung der Armut?

      Was ist die angemessene Bezugsgröße zur Berechnung der Armut?

      In unserer Geschichte im vorigen Kapitel wurde als Bezugsgröße das Dorf gewählt. Häufig liegen arme Dörfer aber direkt neben reichen Dörfern oder Städten.

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