Wohl in meiner Haut. Gisela Enders
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Natürlich ist viel davon nicht böse gemeint, dennoch entfaltet es oft eine fast giftige Wirkung. Botschaften von Verwunderung, fehlender Akzeptanz und Andersartigkeit verstärken bei mir nicht das Grundbedürfnis von Zugehörigkeit und Anerkennung. Nun könnte man ja sagen, dass man bei vielen Gruppen sich dann andere raus sucht, bis man die passenden gefunden hat. Leider ist dieses Konstrukt trotzdem fragil. Denn selbst wenn ich dann eine Gruppe gefunden habe, in der ich mich anerkannt und zugehörig fühle, kann es sein, dass ein neues Gruppenmitglied in der Lage ist, dies schnell zunichte zu machen. Weil im Zweifel kein anderer merkt, wie schnell der subtile Ausschluss stattfindet und wie schnell sich das Unwohlsein steigern kann. Es gibt dabei in meinen Augen übrigens fast keine Gruppen, in denen sich ein dicker Mensch sicher fühlen kann. Ob Familie, soziale und berufliche Zusammenschlüsse oder Freunde, die Zugehörigkeit bleibt fragil, es kann in so gut wie allen Zusammenhängen passieren, dass man wegen seiner Figur angesprochen wird und eine wie auch immer geartete Forderung formuliert wird, sich zu verändern. Natürlich nur gut gemeint und zu meinem Besten. Aus der Erfahrung, dass es passieren kann, baue ich mir diese Möglichkeit oder konstruiere mir die Gedanken der anderen, auch wenn kein anderer was sagt. So konnte ich zu einem Onkel, der Arzt ist, eigentlich nie ein normales Verhältnis aufbauen. Obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass er mich je auf meine Figur angesprochen hat. Ich vermute aber, dass er meine Figur als problematisch ansieht.
Eine Lösung könnten Aktivitäten mit anderen dicken Menschen sein. Ich will mal nicht auf das Thema eingehen, dass dann sofort gescannt wird, wer dicker und wer dünner ist. Eine – finde ich, witzige – Kategorisierung, die natürlich auch unnötig ist, aber wahrscheinlich genauso normal stattfindet, wie Menschen, die ein Motorrad haben, sofort klären, wer am meisten PS hat. Kommen dicke Menschen in gegenseitiger Akzeptanz zusammen – also nicht zum gemeinsamen Schrumpfen – dann kann hier tatsächlich in Bezug auf Körperlichkeit eine angenehme Atmosphäre der Zugehörigkeit und Anerkennung herrschen. Solche Gruppen haben oft sogar sehr viel Spaß miteinander. Aber wehe, sie bewegen sich als Gruppe in die Öffentlichkeit. Eine Ansammlung dicker Menschen weckt Aufmerksamkeit und sie können sich vieler Blicke und gegebenenfalls auch dummer Bemerkungen nicht entziehen. Wenn sich dicke Gruppen auf den Weg machen, dann scheinen sie viele Vorurteile geradezu auf sich zu bündeln.
Nur ganz, ganz wenige stehen auf und wehren sich gegen Stigmatisierung.
Selbst ich finde es oft schwierig, besonders gegen subtile Formen der Stigmatisierung vorzugehen. Die meisten dicken Menschen haben ein konstantes Gefühl entwickelt, auf dieser Welt nicht richtig und voll akzeptiert zu sein. Statt sich für die eigenen Rechte stark zu machen, reagieren die meisten Betroffenen mit Schuldgefühlen und Scham. Warum? Weil seit Jahrzehnten versucht wird, Dicken weiszumachen, sie könnten an ihrem Gewicht langfristig etwas verändern und nur sie individuell schaffen es nicht.
Bilder schaffen Normen
Dieser Zeitgeist wird seit Jahrzehnten sehr akribisch aufgebaut und hochgehalten. Wir werden jeden Tag von tausenden von Bildern beeinflusst, zum großen Teil nehmen wir die Bilder gar nicht bewusst, sondern nur unbewusst wahr. Dennoch wirken sie und produzieren in unserem Gehirn ein Bild von „Normalität“. Normal sind schlanke, schöne Menschen. Zum Teil sind diese Bilder, die unser Unterbewusstsein beeinflussen, nicht mal die von echten Menschen. Sie werden mit Photoshop und anderen Mitteln künstlich umgestaltet, noch schlanker, jünger und vermeintlich perfekter gemacht. Dicke Menschen kommen in dieser Bilderwelt nicht vor, als Ausnahme werden sie in klassischen Stereotypen gezeigt. Da gibt es den lustigen Dicken, der für XXL Mode wirbt. Oder die Figur des Trottels im Film, der mit einem dicken Menschen besetzt wird. Maximal ermittelt mal ein dicker Kommissar, aber im Wesentlichen sind Bilder dicker Menschen in den Medien rar. Insbesondere normale und positive Bilder. Zahlreiche Schlagzeilen hetzen auch im Wort gegen dicke Menschen. Epidemie Übergewicht, die Forderung nach höheren Krankenkassenbeiträgen, Kinder werden immer dicker – die Schlagzeilen sind vielfältig, nur selten positiv und in vielen Fällen mit klaren Schuldzuweisungen verbunden und einer klaren Handlungsaufforderung – dringend abzunehmen. Kein Wunder, dass der Druck groß ist. Die Hoffnung irgendwann schlank zu sein und sich dann auch unterhalb des eigenen Halses akzeptieren zu können, wird durch all diese Bilder und Nachrichten genährt.
Die daraus resultierenden Veränderungswünsche werden von Diätfirmen eifrig unterstützt und genährt, machen sie doch immensen Profit mit dem Kampf um die Traumfigur.
Also wird immer wieder eine Diät probiert, in der Hoffnung, dass es diesmal funktionieren wird. Natürlich kommt es anfangs zu einer Gewichtsabnahme. Aber langfristig ruiniert die Diäthaltende nur ihren Stoffwechsel, sie provoziert Essstörungen und was wohl das Allerschlimmste ist, sie ruiniert ihr Selbstbewusstsein. In der Anfangszeit erhält eine diäthaltende Person zahlreiche gesellschaftliche Bestätigung zu ihrem neuen Gewicht. Andere Qualitäten und Erfolge rücken in den Hintergrund, was zählt, ist die Gewichtsabnahme. Aber leider folgt in 95 Prozent aller Fälle nach der Gewichtsabnahme die Gewichtszunahme. Hier wird dann die gesellschaftliche Bestätigung versagt und übrig bleibt ein Häufchen Elend, welches sich schon wieder nicht beherrschen konnte. Das Schlüsselwort ist dabei „Versagen“. Dicke Menschen haben versagt. Versagt, sich den Regeln der Gesellschaft und Kultur, nach denen wir leben, anzupassen. Versagt, den Normen, welche die Gesellschaft, die Medizin und die Medien uns vorschreiben, nachzukommen und zu erfüllen. Versagt, nach den eigenen Erwartungen zu leben. Versagt, Eigenschaften wie Selbstkontrolle, Stolz und Willensstärke zu nutzen. Diese Litanei ließe sich endlos fortsetzen. Kein Wunder, dass ein dicker Mensch kaum noch an sich selbst und die eigenen Vorzüge glauben kann. Die Gehirnwäsche, dass dick sein ungesund ist und trotzdem die Gewichtsabnahme nicht gelingt, hinterlässt massive Spuren im eigenen Selbstbewusstsein und in der Fähigkeit sich wohl in der eigenen Haut zu fühlen.
Ausgrenzung wird früh erlernt
Die Stigmatisierung beginnt leider bereits recht früh – schon in der Kindheit. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es für ein dickes Kind keinen Schutzraum gibt. Angefangen bei der großen Politik, die in dicken Kindern den Anfang von umfangreichen Krankheiten sieht und diese gerne in Abnehmcamps schicken. Ärzte sehen im dicken Kind ein Problem, auch bei Besuchen zu anderen Krankheiten wird dem ohnehin kranken und damit geschwächten Kind – welches eigentlich Empathie braucht – noch mitgegeben, dass es unbedingt beim Essen aufpassen muss. Lehrerinnen kommen mit einfachen Lösungsvorschlägen und vielen Vermutungen über die Unfähigkeit der Eltern daher. Kinder untereinander können in vielfältiger Hinsicht grausam sein. Bei dicken Kindern sind sie es bestimmt. Es wird gehänselt, was das Zeug hält. Wenn das dicke Kind großes Glück hat, dann ist wenigstens das Elternhaus ein Ort der Liebe und Geborgenheit. Aber natürlich wirken alle oben genannten Einflüsse auch auf die Eltern. In der guten Absicht, dem Kind ein gesundes, glückliches Leben zu ermöglichen, wird in den meisten Fällen auch hier die Essensmenge beschränkt, am Kind rumgenörgelt und wenig Anerkennung gegönnt.
Die Nachricht in jungen Jahren: Nur wenn du abnimmst, darfst du zu uns gehören!
Die Pubertät ist für dicke Jugendliche wahrscheinlich eine der schwersten Zeiten in ihrem Leben. Neben der Veränderung des eigenen Körpers vom Kind zur Frau oder zum Mann, müssen sie sich auch noch damit auseinandersetzen, auch nur annähernd die körperliche Norm zu erfüllen. In den meisten Fällen werden junge Menschen in diesem Alter nicht liebevoll durch die eigenen Eltern unterstützt, sondern doppeldeutige Botschaften verstärken den sich entwickelnden Selbsthass.
Susanne, heute 17 Jahre, berichtet zu dem Umgang mit ihren Eltern folgendes:
„Eigentlich habe ich ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Es wäre sicherlich noch besser, wenn ich es endlich schaffen