Erziehungskunst III. Rudolf Steiner
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Dritte Seminarbesprechung
23. AUGUST 1919, STUTTGART
A. erzählt das Märchen vom »Marienkind« zunächst für melancholische und dann für sanguinische Kinder.
Rudolf Steiner: Ich meine, Sie werden in Zukunft berücksichtigen müssen, die Sachen artikuliert zu geben. Sie haben die beiden Fassungen in zu gleicher Art vorgebracht. Der Unterschied muss auch in der Artikulation liegen. Wenn Sie diese Details in etwas eindringlicherer Art vorbringen, werden Sie bei melancholischen Kindern den Eindruck nicht verfehlen. Bei Sanguinikern würde ich den Vortrag, besonders am Anfang, etwas mehr mit Zwischenpausen gestalten, so dass das Kind gezwungen ist, die Aufmerksamkeit, die es hat fallen lassen, immer von neuem wieder aufzunehmen. Nun möchte ich aber noch fragen: Wie würden Sie diese Erzählung weiter verwenden, wenn Sie wirklich konkret zu unterrichten hätten? Stellen Sie sich vor, Sie stünden vor Ihrer Klasse, was würden Sie dann tun? – Ich würde Ihnen raten, nachdem Sie die melancholische Fassung vorgebracht haben, sie sich nacherzählen zu lassen von einem sanguinischen Kinde und umgekehrt.
D.: Ich will vorausschicken, dass ich für ratsam halte, das sanguinische Kind straff vor sich zu setzen und dauernd in der Blickrichtung zu halten, während für die melancholischen Kinder möglichst eine behagliche, gemütliche Stimmung zu erzeugen ist.
Rudolf Steiner: Sehr gut bemerkt.
D. erzählt das Märchen vom »Meerkätzchen« zunächst in der Fassung für das sanguinische und dann für das melancholische Kind und bemerkt dazu, dass die melancholischen Kinder nicht viel Trauriges erzählt haben wollen.
Rudolf Steiner: So etwas kann man berücksichtigen. Aber die Kontrastierung war gut. Nun würde ich meinen, dass noch übergegangen werden muss auf die Art, wie man das nun nach einiger Zeit weiter behandelt. Ich würde am nächsten Tage oder am darauffolgenden Tage nicht das Kind bestimmen, das erzählen soll, sondern ich würde sagen (lebhaft): »Jetzt merkt ihr euch das! Ihr könnt euch wählen, welches ihr euch merken wollt, um es selbst zu erzählen!« Am nächsten oder zweitnächsten Tag würde ich das Kind sich melden lassen.
G. erzählt das Märchen vom »Similiberg« in beiden Fassungen.
Rudolf Steiner: Nicht wahr, Sie haben doch alle das Gefühl, dass solch eine Sache auf verschiedene Weise gemacht werden kann. Nun ist es wirklich von einer großen Bedeutung, dass man sich gerade, wenn man als Lehrer wirken will, die unnötige Kritisiererei abgewöhnt; dass man als Lehrer ein starkes Gefühl dafür entwickelt, dass man sich bewusst wird, es kommt schließlich nicht darauf an, dass man immer auf etwas, was getan wird, etwas Besseres daraufsetzen muss. Eine Sache kann in mannigfaltiger Weise gut sein. Deshalb würde ich es auch für gut halten, wenn dieses hier Vorgebrachte als etwas betrachtet würde, was durchaus so ausgeführt werden kann, wie wir es gehört haben. Ich möchte aber etwas anderes daran knüpfen. Bei allen drei Erzählungen glaube ich eines bemerkt zu haben: das ist, dass immer die erste Fassung auch in ihrer Zielsetzung die bessere war. Was haben Sie, Fräulein A., in Ihrer Seele zuerst ausgebildet, was haben Sie gefühlt, dass Sie besser machen würden?
Es wird festgestellt, dass die zuerst von Fräulein A. in der Seele ausgebildete Fassung die für das melancholische Temperament war, und dass diese die bessere war.
Rudolf Steiner: Nun möchte ich empfehlen: arbeiten Sie alle drei auch noch die Fassung für das phlegmatische Kind aus. Das ist von großer Bedeutung für das Stilgemäße der Form. Aber ich bitte Sie, versuchen Sie, womöglich diese Fassung sich heute noch auszuarbeiten, provisorisch, dann darüber zu schlafen und die endgültige Fassung morgen zu beschließen. Es ist eine Erfahrung, dass man, wenn man so etwas machen will, das Umgestaltete nur aus einem anderen Geiste heraus bekommt, wenn man es nach Vorbereitung durch den Schlaf hindurchgehen lässt. Bringen Sie uns am Montag eine Umgestaltung ins Phlegmatische, die Sie aber, bevor Sie die endgültige Ausgestaltung vornehmen, vorbereiten. Das ist ja möglich, weil der Sonntag dazwischen liegt.
E. zeigt eine Zeichnung vor, ein Motiv in Blau-Gelb für ein melancholisches Kind.
Rudolf Steiner zeichnet dazu dasselbe Motiv in Grün-Rot für ein sanguinisches Kind. Da kann man zu den Kindern sprechen: »Das Blau-Gelbe schaut man am besten am Abend an, wenn es dunkel wird, vor dem Einschlafen. Das nehmt ihr auch herein in euren Schlaf, denn das ist die Farbe, womit ihr vor Gott erscheinen könnt. – Das Grün-Rote nehmt ihr vor morgens beim Erwachen, damit könnt ihr nach dem Erwachen leben. An dem erfreut euch den ganzen Tag!«
Nun zeigt E. eine Zeichnung vor für ein sanguinisches Kind, Rot auf weißem Grund.
Rudolf Steiner zeichnet dasselbe Motiv für ein melancholisches Kind, lang und schlank, Blau auf schwarzem Grund. Die frech vorragende Form heißt er »Kickerling«. Beim melancholischen Motiv zieht sie sich einwärts. Nun, sehen Sie, das würde ein solcher Gegensatz sein, dass Sie mehr die Farben benützen würden, um auf das eine Kind und auf das andere zu wirken. Sie müssten doch motivieren, dass Sie zweimal dieselbe Sache vorbringen. Was würden Sie zu den Kindern sagen?
E.: Ich würde fragen, welches ihnen besser gefällt.
Rudolf Steiner: Da würden Sie Ihre eigenen Erfahrungen machen! Das sanguinische Kind würden Sie erkennen an seiner Freude an diesem Farbenkontrast. Natürlich, solche einfache Formen, die sollte man nicht versäumen, für Kinder wirklich zu pflegen.
T. empfiehlt für den Choleriker Formen, die nach außen spitz sind, zum Beispiel
umzuwandeln in etwas Geschlossenes
oder
umzuwandeln in
Für den Phlegmatiker empfiehlt er den umgekehrten Weg: Vom Kreis auszugehen und Figuren einzeichnen zu lassen, oder den Kreis in irgendeiner Weise zu zerschneiden.
Rudolf Steiner: Ich würde nun beim phlegmatischen Kinde für diese Methode noch das Folgende anwenden. Ich würde sagen: »Nun sieh einmal, das ist ein Kreis: Nicht wahr, den magst du ganz gerne haben! Aber ich werde dir noch etwas anderes machen: Sieh einmal, ich nehme einfach diese Sachen weg, den Rand, jetzt ist es erst richtig: Du musst dir angewöhnen, nicht alles mögliche durcheinander zu machen. Versuche das Gleiche von Anfang an zu machen.« Durch Zeichnen und Auslöschen ist das phlegmatische Kind aus seinem Phlegma herauszureißen. Nun würde ich Sie bitten, dieselbe Methode des Beschlafens anzuwenden, und Frau E. bitten, dasselbe Motiv auch für andere Temperamente auszuarbeiten.
M. beschreibt einen Gorilla in zweierlei Fassung.
Rudolf Steiner: Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, dass man auch erfindet, ohne dass man sich anlehnt an bestimmte Naturforscher,