Der große Reformbetrug. Udo Schenck
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Nun im Winter, wo draußen keine Arbeit mehr zu verrichten war, wurden wir mit einer anderen, neuen Projektgruppe in einer typischen Berliner Altbauladenwohnung eingepfercht, etwa 30 Menschen beider Geschlechter auf etwa 50 qm und mit einer einzigen Toilette. In Ermangelung einer sinnvollen Tätigkeit und Arbeit beschäftigte ich mich bereits einige Zeit vor diesem Ein-Euro-Job mit Schreiben (Belletristik) und befand mich diesbezüglich bis dahin auf einem guten Weg. Das war wenigstens etwas, das mir Sinn zu machen schien, mich vielleicht voran bringen konnte bzw. eventuell neue Wege eröffnen konnte. Bedauerte ich bereits bisher wegen dieses Ein-Euro-Jobs kaum noch Gelegenheit und Muße zum Schreiben zu haben, so haderte ich nun noch um einiges mehr über diese Internierung, diese Einbuchtung und den Zwang zum Nichtstun. Denn es ging bei diesem Job nun eigentlich nur noch darum, die ganze Zeit physisch anwesend zu sein, so wie es vorgeschrieben war. Man konnte quasi allen Blödsinn machen, nur vernünftig und produktiv arbeiten, auch wenn es nur für einen selbst war, das war in einem Raum, in dem sich so viele Menschen aufhielten, schwatzten, spielten, lachten und die Luft in diesen schlecht belüfteten Räumen verbrauchten, beim besten Willen nicht möglich. Hier spürte man tatsächlich bald geradezu physisch wie einem die Lebenszeit gestohlen wurde, wie eingesperrt man war und zum Nichtstun verdammt. Und dies spürte man vielleicht noch umso mehr je älter man war, wie die demütigende Ohnmacht, die sich einem so unausweichlich in den Weg stellte. Wie verfluchte ich jede einzelne dieser nutzlosen und vergeudeten Stunden und die verlorene Lebensenergie, die der kaum zu ermessenden Aufreibung an dieser kafkaesken Situation geschuldet war.
Ansonsten bleibt noch anzumerken, dass unsinnigerweise ich, wie die Hälfte meiner Kollegen, während dieses Ein-Euro-Jobs noch einmal Zuweisungen für andere Ein-Euro-Jobs erhielten, die man mitten in der laufenden Maßnahme hätte antreten sollen. Das Geld hätte man sicher gern mitgenommen; aber wie hätte man das mit der Arbeitszeit managen sollen? Um diesen groben Unfug aufzuklären, und vor allem unserer Mitwirkungspflicht zu genügen, mussten wir uns natürlich für einige „wunderbare“ Stunden im Jobcenter einfinden. Auf meine Frage an die äußerst junge (vielleicht noch nicht einmal zwanzigjährige) Angestellte am Schalter, wie es angesichts unserer Tätigkeit in einem Ein-Euro-Job zu solchen Zuweisungen kommen könne, gab die ungerührt, die in jeder Hinsicht tief blicken lassende Antwort: „Die werden einfach so zugewiesen.“ Na dann ist ja alles in bester Ordnung. Vielleicht haben die betreffenden Sachberarbeiter/innen bloß mal blinde Kuh gespielt (aber vielleicht mussten sie das noch nicht einmal) oder gewürfelt, denn man gönnt sich ja sonst nichts. Soviel noch einmal zur „Effizienz“ und „individuellen Kundenbetreuung“ der Arbeit der Jobcenter.
Aktivierungsmaßnahme
In der betreffenden Eingliederungsvereinbarung, in der meine Teilnahme an einer ganztägigen sog. Aktivierungsmaßnahme festgeschrieben wurde, hieß es u. a.: „Die Maßnahme soll Ihre berufliche Eingliederung durch die Heranführung an den Arbeitsmarkt unterstützen. Die Maßnahme geht vom 02.04.2012 bis 27.05.2012 und verlängert sich um Tage der Arbeitsunfähigkeit. Ziel der Maßnahme zur Aktivierung und Vermittlung mit intensiver Betreuung und Anwesenheitspflicht ist es, durch Aktivierung, Qualifizierung und Unterstützung Sie in Arbeit zu vermitteln.“
Diese sog. Aktivierungsmaßnahme wurde bei einem bundesweit bekannten Träger durchgeführt, der u. a. in den obersten beiden Etagen eines neunstöckigen Hochhauses ansässig ist, welches sich in einem öden Gewerbegebiet des Berliner Bezirks Neukölln befindet. Ich wurde in eine bunte, 15-köpfige Gruppe von Menschen unterschiedlichsten Alters und Qualifikationsniveaus gesteckt. Da fanden sich sehr junge und ungelernte Erwerbslose mit gestandenen und älteren Facharbeiter/innen und Akademiker/innen zusammen. Auffällig war, dass sich in dieser Gruppe eine ganze Reihe gescheite Köpfe befanden, auch unter den jungen Ungelernten, die aber wohl nie eine echte Chance bekommen hatten. Bei allem Negativen, was noch folgen wird, muss erwähnt werden, dass wir es in unserer Gruppe mit freundlichen und hilfsbereiten Dozenten bzw. Personal zu tun hatten, worin sich aber bereits alles Positive erschöpfte. Einer unserer Parallelkurse hatte da mit seiner Dozentin nicht so viel Glück, wie auch ich und andere aus unserer Gruppe bei einigen Gelegenheiten feststellen mussten. Der Dozent, der unsere Gruppe leitete, verkaufte neben seiner freiberuflichen Tätigkeit für den Träger ebenso freiberuflich Küchen um über die Runden zu kommen, wozu er sich wenigstens jeden zweiten Freitag von einem anderen Dozenten vertreten lassen musste. Überdies war von den Dozenten, welche die unterschiedlichsten beruflichen Biographien vorwiesen, wohl kaum jemand fest angestellt. Im Hinblick auf ihre jetzige Tätigkeit erschienen die Dozenten mit ihren oft so völlig andersartigen Berufserfahrungen und Kenntnissen als wenig geeignet.
Bei unserer ersten Aufgabe war unsere Selbsteinschätzung gefragt, wozu wir eine Reihe von Fragebögen ausfüllen sollten, die offensichtlich unsere Persönlichkeitsprofile erfassen wollten, u. a. mit Fragen wie: „Sind Sie ein Mensch, auf den man sich verlassen kann? Was meinen Sie, wie pünktlich sind Sie?, Wie schätzen Sie ihre Sorgfalt ein?“ Oder es wurde nach der Ausprägung diverser Attribute gefragt, wie: „sympathisch, vertrauenswürdig, leistungsorientiert, furchtsam, verantwortungsbewusst, konservativ“ usw. Die Ausprägung dieser Attribute sollte man auf einer siebenstufigen Skala von +3 (sehr ausgeprägt) über Null (neutral) bis -3 (gar nicht ausgeprägt) angeben. Fast allen Maßnahmeteilnehmern, wie auch mir, ging diese Schnüffelei entschieden zu weit, weshalb diese Befragungsaktion vorzeitig ihr Ende fand. Auf der anderen Seite war aber auch die Sinnhaftigkeit dieser nicht anonymen, stümperhaften Befragung sehr in Frage zu stellen, da davon ausgegangen werden musste, dass sich die Befragten wohl eher so positiv darstellen, wie sie gesehen werden wollten und damit tendenziell positiver erscheinen würden als sie es in Wirklichkeit sind. Denn es erscheint kaum vorstellbar, dass ein Mensch mit nur halbwegs gesundem Menschenverstand unter diesen Bedingungen zugeben würde z. B. zur Unpünktlichkeit zu neigen.
Eine andere Art von Aktivität, die man wohl unter Verlegenheitsaktionismus zusammenfassen muss, betraf einige ganztägige Außenaktivitäten, bei denen uns auszufüllende Aufgabenblätter mit gegeben wurden. Einmal ging es darum aufzunehmen welche Arten von Geschäften sich wie häufig in einer bestimmten großen Neuköllner Geschäftsstraße befanden. Ein anderes Mal sollten wir in Gruppen ganze Neuköllner Gewerbegebiete nach freien Stellen durchkämmen, indem wir persönlich direkt bei den Betrieben vorsprechen sollten. Regelmäßig wurden die auf den Weg geschickten von den Pförtnern mit dem Hinweis auf fehlende offene Stellen abgewiesen, oder sie wurden allenfalls damit vertröstetet, besser eine sog. Initiativbewerbung schreiben zu sollen. Einige dieser Aufgaben durften auch mit Hilfe des Internets zuhause gelöst werden, da dies wegen technischer Probleme in der Bildungseinrichtung selbst häufig nicht möglich war (s. u.). Kennzeichen all dieser Aktivitäten war, das sie in keiner Weise auch nur im Ansatz auf die individuellen Belange, Fähigkeiten und die Situation der Maßnahmeteilnehmer eingingen, sowenig wie die ganze Maßnahme insgesamt. Einige der uns ausgehändigten Aufgabenbögen passten genau in das pauschalierte und unterstellte Klischee vom nur rumhängenden, rauchenden, trinkenden und überhaupt ungesund lebenden und infolge seiner individuellen Mankos nichts geregelt bekommenden Arbeitslosen bzw. Unterschichtmenschen, das man von interessierter Seite so gern in der Öffentlichkeit kolportiert, um daraus eine Legitimation zu ihrer Bevormundung und Abstrafung ableiten zu können. In den betreffenden Aufgabenblättern wurden wir u. a. nach unserer Auffassung von Gesundheit befragt und dazu aufgefordert uns in unserer Wohngegend nach Fitnesseinrichtungen und deren Preisen zu erkundigen. Siehe eine Auswahl der betreffenden Formulare auf den nächsten Seiten.
Abbildung B: