Der große Reformbetrug. Udo Schenck
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Hier wurde also tatsächlich so getan, als sei mangelnde Fitness eine relevante Ursache für Arbeitslosigkeit, womit auf ziemlich penetrante Weise die Privat- und Intimsphäre der Maßnahmeteilnehmer tangiert wurde. Abgesehen davon, dass diese Scheinlösungsansätze von den tatsächlichen Problemen des Arbeitsmarktes ablenken sollen, wurde nicht mit einem einzigen Wort darauf eingegangen, wie Erwerbslose mit ihrem geringen Einkommen ein Fitnessprogramm in einer entsprechenden Einrichtung finanzieren sollen. Und natürlich wurde auch nicht der Krankheiten verursachende Stress unter den heutigen Bedingungen der Erwerbslosigkeit thematisiert. Das war und ist Tabu, denn Stress mache man sich schließlich nur selbst, wie auch dies gern dem neoliberalen Mainstream entsprechend propagiert wird.
Mindestens ein Drittel der Zeit, die wir in dieser Maßnahme anwesend sein mussten, wurde mit ziemlich allgemeinem Palaver und Diskussionen über Gott und die Welt, mit dem Anschauen von mal gehaltvolleren und mal weniger gehaltvollen Videos, wie Actionfilmen, mit ausgiebigen sog. Frühstücksrunden, die sich häufig über mehr als einen halben Tag dahin zogen, oder mit Gesellschaftsspielen, wie z. B. dem Galgenspiel vertan, so wie es von unserem Dozenten angeregt wurde. Bei dem Galgenspiel, z. B., wurde unsere Gruppe in zwei Fraktionen aufgeteilt, die gegeneinander spielen sollten. Es ging darum, mit der Beantwortung von Fragen bzw. Rätseln ein Strichmännchen an einem Galgen hängend zu erzeugen – jede richtige Antwort ein Strich. Und so schlugen wir unsere Zeit noch mit einigen anderen ähnlichen Spielchen buchstäblich tot.
Die bereits im Vorangegangenen kurz erwähnte Dozentin aus dem Nachbarkurs ließ in ihrem standardisiert herablassenden Tonfall zur Einweisung in eine der o. g. Außenaktivitäten wissen, dass diese dazu gut wäre mal wieder unsere Gehirne in Gang zu bekommen, so als wären wir alle grundsätzlich phlegmatische Dummköpfe, die nichts sinnvolleres mit ihrer Zeit anzufangen wüssten. Die Teilnehmer eines, dieser Dozentin zugeteilten Kurses, soll sie pauschal als Sozialschmarotzer heruntergeputzt haben. Einer der Teilnehmer aus unserer Gruppe hatte einmal eine Unterredung mit dieser Dozentin, die ihm bei dem Versuch einen Sachverhalt darzulegen rüde ins Wort gefallen sein soll. Auf seine folgende Bitte ausreden zu dürfen soll die Dozentin wörtlich entgegnet haben: „Das hier ist mein Raum. Da haben Sie den Mund zu halten, wenn ich das sage…“, worauf der genannte Maßnahmeteilnehmer konsequent das Gespräch beendete und sich anschließend über die Frau beschwerte. Bei dieser Frau handelte es sich um eine von jenen grotesken Erscheinungen, die wohl nicht recht mit sich selbst im Reinen sind, und die leider viel zu häufig auf diesen Ebenen anzutreffen sind. So war auch ihr die Attitüde des kleinen, von Minderwertigkeitskomplexen geplagten, Gernegroß zueigen, der meint den Untergebenen dank seiner Position nun endlich auch einmal zeigen zu dürfen wo der Hammer hängt (vgl. Kap. 2.4.1). Diese kleine, zierliche Frau, augenscheinlich bereits über fünfzig, aber kein bisschen weise und mit einem überproportionalen Bierbauch, der von Storchenbeinen und Stöckelschuhen balanciert wurde, (ver)kleidete sich derb geschminkt in der Art einer Domina, stets mit Miniröckchen. Nicht, dass der Autor etwas gegen extravagante, individuelle Kleidung hätte, ganz im Gegenteil, aber in diesem Fall passte das in seiner beinahe unübertroffenen Geschmacklosigkeit so absolut gar nicht. So konnte die verbreitete Belustigung über diese wunderliche Erscheinung und in manchen Fällen ihre Bemitleidung oder aber auch ihre wiederum häufigere Verachtung, infolge ihres mangelndem Charmes und Taktgefühls, nicht sonderlich verwundern.
Ein anderes, großgeschriebenes Thema dieser Aktivierungsmaßnahme war das Bewerbungstraining bzw. die Massenproduktion von Bewerbungen. Dies war beileibe nicht das erste Bewerbungstraining, dass der Autor und die meisten der anderen Teilnehmer über sich ergehen lassen mussten. Mittlerweile wird wohl so ziemlich jede sog. berufliche Weiterbildung mit dieser Art von billigen Füllsegmenten, die sich Bewerbungstraining nennen, aufgeblasen. So sympathisch und nett unser Dozent war, so sehr muss ihn eines Tages doch der Teufel geritten haben bzw. muss er einen sog. Blackout gehabt haben, als er von uns verlangte sage und schreibe sechs Bewerbungen pro Tag schreiben zu sollen. Wie er auf diese Schnapsidee kam und wohin man diese Unzahl von Bewerbungen hätte schicken sollen wird wohl für ewig sein Geheimnis bleiben. Auch angesichts dessen, was uns eben dieser Dozent über Bewerbungstechniken vermittelte, wovon doch einiges als brauchbar erschien, erschien seine Forderung völlig unverständlich. Davon abgesehen wurde in jeder Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter von vorn herein fest geschrieben, wie viele Bewerbungen im Monat zu schreiben waren, so auch in meiner, in der fünf Bewerbungsbemühungen pro Monat festgeschrieben wurden, die ich zu leisten hatte.
Wer schon einmal Bewerbungen geschrieben hat, wird vielleicht wissen, dass es zu einer guten Bewerbung i. d. R. einen halben Tag und mehr brauchen kann, inklusive den Recherchen und was sonst noch dazu gehört. Und am nächsten Tag schaut man sich das ganze noch einmal an und entschließt sich möglicherweise zu Änderungen. Jedenfalls gab es in unserer Gruppe einen regelrechten Aufschrei der Entrüstung, über die Weisung unseres Dozenten, sechs Bewerbungen pro Tag schreiben zu sollen. Die Vorgesetzte des Dozenten wollte jedoch bemerkenswerter Weise nichts von einer Anweisung zu dieser Anzahl von Bewerbungen wissen und wunderte sich sogar in meinem Fall darüber, dass ich laut Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter mindestens fünf Bewerbungsbemühungen pro Monat auszufertigen hatte, womit diese Angelegenheit allseitig vom Tisch war.
Im Rahmen des Bewerbungstrainings wurde uns u. a. ein Lehrvideo eines selbsternannten „Bewerbungsexperten“ vorgeführt, dessen z. g. T. doch recht weltfremde und abseitige Vorstellungen von Bewerbungstechniken regelmäßig für Belustigung sorgte. So regte der gute Mann in dem Video, im Falle einer Dame, die sich um eine Stelle bewerben wollte, u. a. dazu an, sich auch von hinten in einer Bewerbung abbilden zu lassen, weil dies etwas besonderes wäre, das auf positive Resonanz und erhöhte Aufmerksamkeit stoßen würde. Ansonsten befand dieser „Bewerbungsexperte“, man solle man selbst und natürlich bleiben aber zu jedweder Veränderung, Anpassung und Maskerade bereit sein. Wie man diesen Spagat bewältigen sollte blieb indessen sein Geheimnis.
Angesichts des allgemein katastrophalen Zustandes der EDV-Technik bei dem Bildungsträger hatte man jedoch bereits Mühe das gewöhnliche Pensum an Bewerbungen bewältigen zu können, abgesehen davon, dass man eigentlich nur zuhause die notwendige Ruhe zum Schreiben von Bewerbungen fand. Neben veralteten Betriebssystemen kam es laufend zu Fehlermeldungen und Systemabstürzen, die Software war von Rechner zu Rechner verschieden, es konnte nicht von allen Computern aus gedruckt werden, weil teilweise die erforderlichen Druckertreiber nicht installiert waren, Softwareupdates waren nicht auf dem neuesten Stand und konnten von normalen Benutzern nicht durchgeführt werden, da hierfür nicht die notwendigen Rechte vergeben wurden. Die Arbeit im Internet war nur sehr eingeschränkt oder gar nicht möglich, da zahlreiche (auch für die Stellensuche relevante) Web-Seiten über den zentralen Proxy-Server in Köln geblockt wurden und nicht zuletzt war auch die Versendung von Bewerbungen über das Internet wegen sog. Netzwerk-Zeitüberschreitungs-Fehlern nicht möglich, um nur die allerwichtigsten Probleme zu nennen. Und das war für eine Aktivierungsmaßnahme bzw. einen Bildungsträger, der sich auf die Fahnen schrieb, den Teilnehmern bei der Vermittlung in Stellen behilflich zu sein, gelinde gesagt ein bisschen sehr, sehr dünn. Offensichtlich wurde die EDV-Technik über Jahre nicht mehr gepflegt, noch hatte man sich anscheinend Gedanken darüber gemacht, wie sie von den Kursteilnehmern im Sinne der Maßnahme bzw. ihrer Verpflichtungen sinnvoll genutzt werden kann. Ebenso vernachlässigt wurde die Reinigung der Räume und der Toiletten, sodass letztere stanken, teilweise nicht funktionierten oder verstopft waren. Besonders brisant war der Zustand vieler Fenster, in diesem Bauwerk aus den sechziger oder siebziger Jahren. Wollte man eines dieser Fenster öffnen oder ankippen musste man aufpassen nicht erschlagen zu werden, so reparaturbedürftig waren sie.
Wichtig war für den Bildungsträger offensichtlich nur eines, nämlich das Geld vom Jobcenter, das man für ein Minimum an Einsatz für diese Pseudomaßnahme bzw. Alibifunktion einstreichen konnte. Und das Jobcenter schaute da lieber weg und konnte nun wieder einmal behaupten etwas für die Qualifizierung und Integration von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt getan zu haben, neben dem gewünschten Nebeneffekt, dass die Teilnehmer dieser Maßnahme für