Die Kostenvermeidungsdirektive. Jens Wahl
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Am zweiten Seetag nachmittags bemerkte sie, dass er ständig in die gleiche Richtung starrte. Dort lag ein etwa gut siebzigjähriges Paar. Musste sie da eifersüchtig werden? Sie schubste ihn an und fragte leise: „Was starrst Du denn die ganze Zeit auf die Frau im blauen Bikini? Gefällt sie dir?“ „So a Schmarrn, ich habe nur das Ergebnis ihres Gesichtsliftings beobachtet. Die Frau kann doch kaum noch grinsen, geschweige denn richtig lachen. Und die sehen alle so gleich aus, wie vom Fließband einer Fabrik“, wehrte er ihre aufkommende Eifersucht ab. „Soll ich mich auch liften lassen?“, fragte sie ihn. „Bloß nicht, ich liebe dich so, wie du bist!“ „Das hast du mir aber schon lange nicht mehr gesagt“, lächelte sie zurück. „Aber es ist doch so, dass ich immer mehr Falten bekomme und dieses glatte Gesicht sieht doch jung aus. Gefällt dir das nicht?“ „Dann schaue einfach mal auf ihren Hals und du weißt, wie alt die Alte wirklich ist!“ Er musste über seine eigene Formulierung grinsen. Nein, er wollte seine schon vorhandenen wie die noch dazukommenden Falten in Ehren tragen. Damit sah er garantiert nicht mehr so jugendlich im Gesicht aus, aber er hatte ein individuelles, sein eigenes, Gesicht. Das war ihm deutlich lieber. Von seiner Frau würde er auch nicht verlangen, sich für ihn unters Messer zu legen. Falten gehören nun mal zum Alter! Und was nutzt das jugendlichste Gesicht, wenn man am Hals aussieht, als würde man dort das gegerbte Leder einer Bergziege tragen. Oder die Vorstellung, dass ein jugendliches Gesicht einen Rollator vor sich herschieben würde! Er musste bei diesem Bild schon wieder innerlich grinsen. Außerdem würde er lieber mit einem faltigen Gesicht eine weitere Reise unternehmen, als mit einem glatten auf eine zu verzichten!
Am Morgen nach dem zweiten Seetag standen Klarmanns noch etwas eher auf, um die Einfahrt in den Hafen von Mindelo auf der kapverdischen Insel São Vicente mitzuerleben. Die „Atlantico“ befand sich schon zwischen den beiden, etwa zwölf Kilometer voneinander entfernten, Inseln São Vicente und Santo Antão im Kanal de São Vicente. Achtern war das Inselchen Ilhéu dos Pássaros, zwischen den beiden großen Inseln liegend, zu erkennen. Torsten Klarmann fotografierte das durch die Propeller aufgewühlte, hellblaue Wasser, das ansonsten zurzeit noch Grau aussah. Vor vier Jahren hatten sie sich zur Mittagszeit an dem türkisfarbenen Wasser erfreut.
Mit der „Atlantico“ fuhren sie gerade inmitten einer abgesoffenen Caldera herum, die Ilhéu dos Pássaros ist das Überbleibsel eines Vulkandomes. Mit einem hochseetüchtigen Schiff in einer Caldera herumfahren zu können, ist weltweit auch nicht an allzu vielen Stellen möglich. Die Europäern wohl bekannteste Möglichkeit dazu ist die Insel Santorin im Mittelmeer. Steuerbord lag der 490 Meter hohe „Monte Cara“ - der „Gesichtsberg“. Er sah wirklich aus wie ein liegendes Gesicht: die Stirn Richtung Santo Antão, das Kinn in Richtung Süden gerichtet. In Fahrtrichtung voraus war der höchste Berg von São Vicente, der 750 Meter hohe Monte Verde, zu sehen. Er schien direkt an die Hafenstadt Mindelo anzugrenzen. Hinter ihm färbte die aufgehende Sonne den Himmel durchgehend goldfarben. Vom Schiff aus betrachtet, hatte der Monte Verde auf der rechts abfallenden Seite eine fast kreisrunde Einbuchtung, durch die soeben die Sonne lugte. Der goldfarbene Himmel wurde in Richtung Sonne immer weißer, die ihre Strahlen durch die Einbuchtung am schwarz erscheinenden Monte Verde sandte. Reaktionsschnell hielt Torsten Klarmann diesen „goldenen“ Augenblick mit der Kamera fest. So etwas liebte er!
Klarmanns hatten für den heutigen Tag keinen Landausflug geplant. Auf die Spitze des Monte Verde kam man nicht, der angebotene Ausflug führte nur an dessen Nordseite etwas nach oben, von wo man auf Mindelo und den Hafen blicken konnte. Die Strecke führte hauptsächlich über Kopfsteinpflasterstraßen, die Torstens Implantaten nicht gerade gut tun würden. Da sie für den kommenden Tag die lange Tour über die ganze Insel Santiago geplant hatten, blieben sie an Bord - übrigens nicht als Einzige.
Morgens herrschte dann nach dem Start der organisierten Ausflüge eine fast unheimliche Ruhe auf dem Pooldeck - keine Animation, keine Beschallung. Die an Bord gebliebenen Passagiere nutzten die Möglichkeit, im kleinen Pool mal fast ungestört ein paar Schwimmzüge machen zu können, ohne gleich am nächsten Mitreisenden anzuecken.
Während die Passagiere, egal ob an Bord oder an Land, ihren Urlaub genossen, saß Friederike Oberndorfer in ihrem Büro auf Deck 6 und vervollständigte die Ausflugsplanung für den kommenden Tag. Gestern Abend war Verkaufsschluss für die Ausflüge auf Santiago. Dabei wurde mit 238 Passagieren ein neuer Verkaufsrekord für die Stadtbesichtigung in Praia erzielt. Heute Morgen hatte sie die offiziellen Teilnehmerzahlen an die einzelnen Veranstalter gemeldet und kurz danach die jeweilige Anzahl von Bussen und Reiseleitern erhalten. Sie musste ihre Mitarbeiter auf die Busse verteilen, aber es sollten auch ein paar an Bord bleiben für den Verkauf der kommenden Ausflüge. Auf alle Buchungen, die über das Internet bis spätestens eine Woche vor Reisebeginn erfolgten, erhielten die Passagiere drei Prozent Rabatt auf die Ausflugspreise. Trotzdem buchten die meisten erst hier an Bord. Lag das vielleicht an dem hohen Altersdurchschnitt bei dieser Reise, weil die Internet-Affinität bei dieser Gruppe deutlich niedriger lag? Oder bevorzugten die Passagiere hier das persönliche Gespräch mit den Guides, um einfach die Zeit totzuschlagen? Oder war der Vorteil einer Online-Buchung mit circa 1,50 Euro bei einem Durchschnittsausflug so gering, dass dies nicht als Alternative in Betracht gezogen wurde? Vor allem, wenn man den Gesamtreisepreis damit verglich. Friederike wusste es nicht und AHOS selbst hatte dazu auch noch keine Untersuchungen angestellt.
Sicherlich gab es mehrere Gäste-Arten: Die einen buchten möglichst schon alles im Voraus, um sicherzugehen, auch am gewünschten Ausflug teilnehmen zu können - die Anzahl der Ausflugsplätze war teilweise begrenzt wegen der limitierten Anzahl der Sitzplätze in den zur Verfügung stehen Bussen. Das sind meist diejenigen, die eine Kreuzfahrt nur dazu „missbrauchen“, um ohne ständiges Kofferpacken mehrere Orte sehen zu können. Die eigentliche Seefahrt sehen sie meist nur als notwendiges Übel an und lassen diese mehr oder weniger über sich ergehen - Ausnahmen bestätigen die Regel.
Die zweite Art ließ alles auf sich zukommen und hätte es am liebsten, sich erst fünf Minuten vor Ausflugsbeginn entscheiden zu müssen.
Und die dritte Art ließ sich gern ausführlich beraten und wollte während des Gespräches mit eigenen Erfahrungen prahlen. Diese dritte Gruppe buchte dann meist während der ersten drei Reisetage alle Ausflüge für die gesamte Reise.
Unter der Leitung von Friederike Oberndorfer war dazu übergegangen worden, am Ausflugstag bis eine Stunde vor Beginn der Ausflüge noch offene Plätze, die AHOS gebucht hatte und damit auch bezahlen musste, anzubieten. Dies kam einigen Reisenden, die der zweiten Gruppe zuzuordnen waren, sehr entgegen - und natürlich AHOS auch.
Unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet, konnte man die Passagiere ebenso in zwei große Gruppen einteilen: Reisen mit vielen Häfen wurden von Familien und Paaren bevorzugt. Bei Reisen mit