Appalachian Trail. Eckhard Seipelt
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Für den ersten Tag hatten wir uns zur Eingewöhnung lediglich eine Etappe von 9 Meilen, ca. 14,5 Kilometer, vorgenommen. Von daher ist unser Irrweg nicht weiter tragisch. Am Ende des Tages werden wir nun ca. 17 Kilometer absolviert haben.
Unverhofft sehen wir weit über uns, der Trail führt hier in Serpentinen nach oben, Mareike und Mathias. Wir dachten eigentlich, dass sie bereits einen großen Vorsprung vor uns hätten. Sie haben uns auch bemerkt und warten auf uns. Es stellt sich heraus, dass sie sich ebenfalls verlaufen hatten. Sie konnten der Einladung des „5-Sterne-Wanderweges“ genauso wenig widerstehen wie wir. Gemeinsam setzen wir unsere Wanderung fort.Unterwegs sehen wir wiederholt Weißwedelhirsche.
An einem Aussichtspunkt verbringen wir unsere Mittagspause. Man kann weithin in die Ferne blicken. Auf der anderen Seite der Schlucht sehen wir den Wasserfall, dem wir vorhin einen nicht geplanten Besuch abgestattet hatten. Das Thermometer klettert auf weit über 30 Grad Celsius. Wir schwitzen unaufhörlich. Zum Glück gibt es hier überall Bäche mit glasklarem, eiskalten Wasser. Unser Flüssigkeitsbedarf ist gedeckt. Es ist nun nicht mehr allzu weit bis zur nächsten Schutzhütte, der Bearfence Mountain Hut. Dort werden wir übernachten. Die Schutzhütten werden hier Shelter genannt. Es sind solide Holzkonstruktionen mit drei Wänden und einem Dach, nach einer Seite hin offen.
Zunächst erreichen wir einen Campingplatz mit einem kleinen Supermarkt. Davon gibt es, wie bereits angedeutet, mehrere im Shenandoah Nationalpark. Deshalb hatten wir den Nationalpark
als Ausgangspunkt gewählt. Hier sind wir noch nicht ganz so weit weg von der menschlichen Zivilisation. Auf den hervorragenden Wanderwegen begegnen wir gelegentlich Tages- und Wochenendgästen.
Auf dem Campingplatz müssen wir feststellen, dass auf Grund des Unwetters der Strom ausgefallen ist. Ein lauwarmes Getränk ist immer noch besser als gar keines. Wir entdecken wieder zwei Weißwedelhirsche. Sie lassen mich sehr dicht herankommen. Obwohl sie sich absolut nicht von mir stören lassen, beschließe ich, mich nicht weiter zu nähern und ihre Privatsphäre zu respektieren.
Auf dem Campingplatz kommen wir mit mehreren Einheimischen ins Gespräch. Sie staunen darüber, dass wir die Absicht haben, vier Wochen durch die Wildnis zu wandern. Der gewöhnliche US-Amerikaner reist lieber mit dem Auto an und begnügt sich dann in der Regel damit, die Natur vom Campingstuhl aus zu genießen. Scheinbar sind wir die ersten Fernwanderer, die heute den Campingplatz erreicht haben.
Es ist obligatorisch, sich beim Betreten des Nationalparks registrieren zu lassen. Hierfür gibt es an den fünf Eingängen zum Park eigens dafür vorgesehene Wärterhäuschen. Da diese nach Einbruch der Dunkelheit nicht besetzt sind, ist es Wanderern erlaubt, sich selbst zu registrieren. Dafür liegen Anmeldebücher an geschützter Stelle bei den Wärterhäuschen aus. Aber heute Nacht im Sturm hatten wir nach unserer Ankunft andere Sorgen, als uns um die Registrierung zu kümmern. Wir fragen daher den Campingplatzbetreiber, ob es schlimm sei, dass wir uns nicht registriert haben. Dieser weiß, dass sich zufällig eine Rangerin in der Nähe seines Campingplatzes aufhält, und er schafft es sogar, telefonisch Kontakt zu ihr aufzunehmen. Zwar ziehen am Horizont bedrohliche, dunkle Wolken auf, aber wir werden gebeten, noch so lange zu warten, bis die Rangerin eintrifft. Nach zehn Minuten taucht sie in der Tat auf.
Es ist eine sehr sympathische, freundliche Frau. Sie heißt uns im Shenandoah Nationalpark willkommen und nimmt die Registrierung für uns vor. Außerdem warnt sie uns vor dem herannahenden Unwetter. Es soll wohl nicht ganz so heftig werden wie gestern, aber wir sollten nach Möglichkeit in Sicherheit sein, sobald es über den Park hereinbricht. Wir erklären, dass wir nur noch 0,8 Meilen bis zur nächsten Schutzhütte wandern wollen. Die Rangerin nickt, das ist in Ordnung. Der Campingplatzbetreiber bietet uns an, zu ihm zurückzukommen, falls es irgendwelche Probleme an der Schutzhütte geben sollte. Auf dem Campingplatz ist ein großes, massives Haus, in dem die Gäste schon in der letzten Nacht Zuflucht suchen konnten. Des Weiteren rät uns die Rangerin auf jeden Fall in der Schutzhütte, und nicht im Freien, zu schlafen. Neben den Schutz-hütten gibt es in der Regel auch Stellplätze für Zelte, aber diese werden in der kommenden Nacht keineswegs sicher genug sein.
Wir verabschieden uns herzlich und wandern weiter. Mareike wäre zu gerne auf dem Campingplatz geblieben. Die Verlockung einer Dusche nach dem schweißtreibenden Tag ist für sie sehr groß. Letztendlich gibt sie aber dem „kollektiven Druck“ ihrer drei männlichen Begleiter nach. Das Unwetter kommt schnell näher. Wir erhöhen unsere Schrittzahl, die Natur hat uns letzte Nacht gelehrt, ihr großen Respekt entgegenzubringen.
Wir begegnen zwei Wanderern. Sie berichten, dass sie wenige Meter weiter einen Bären gesichtet hätten. Wir verweilen vorsorglich ein paar Sekunden, entschließen uns dann aber, unseren Weg unverzüglich fortzusetzen. Das Gewitter im Rücken fürchten wir mehr als unsere erste Begegnung mit einem Bären. Es war uns von vornherein klar, dass diese Begegnung ohnehin so gut wie unumgänglich sein wird. Der Shenandoah Nationalpark weist eine extrem dichte Population von Schwarzbären auf. Im Moment sind wir jedoch der Meinung, dass wir fürs Erste Abenteuer genug hatten. Unser erster Bär kann gerne noch ein paar Tage auf uns warten. Laut klatschend ziehen wir weiter. Dies ist das gängige Mittel, um den Tieren seine Anwesenheit mitzuteilen. Die Schwarz- bären sind im Grunde genommen sehr gutmütige Zeitgenossen. Man sollte aber nach Möglichkeit vermeiden, sie an einer Wegbiegung unversehens zu überraschen und sie womöglich zu er-schrecken. Unser Klatschkonzert hat Erfolg, einen Bären bekommen wir heute noch nicht zu Gesicht. Er ist uns ausgewichen.
Am späten Nachmittag erreichen wir die Bearfence Mountain Hut. In der Hütte befinden sich zwei Ebenen aus Holz, auf denen man sich sein Nachtlager einrichten kann. Wir legen unsere selbst-aufblasbaren Schlafmatten aus und legen unsere Schlafsäcke darüber. Mareike gefällt der Gedanke überhaupt nicht, quasi im Freien zu schlafen, zumal offensichtlich auch ein paar Mäuse das gleiche „Hotel“ gebucht haben. Mareike hat eine Mäusephobie. Und die Mücken wetzen sich auch schon voller Vorfreude ihre Stachel.......
Eigentlich wollten Mareike und Mathias nach Möglichkeit immer im Zelt schlafen. Für diese Nacht müssen sie ihr Vorhaben ändern, die Rangerin hatte ausdrücklich von einer Übernachtung im Zelt abgeraten.
Neben der Hütte steht ein Schild mit dem Hinweis, dass am Shelter regelmäßig Bären auftauchen. Wir verstauen unsere Lebensmittel daher in der dort bereit stehenden Bear Box.
Dies ist eine große Kiste, die man sicher verschließen kann, sodass die Bären sich nicht selbst zum Abendessen einladen können.
Mareike betont zwar immer wieder, dass sie unmöglich im Shelter schlafen kann, aber Mathias überredet sie letztendlich doch noch zu diesem Schlafvergnügen der besonderen Art.
Der Himmel verdunkelt sich zusehends und taucht die Schutzhütte in ein unwirkliches, gespens-tisches Licht. Wir erwarten, dass der „Weltuntergang“ jede Sekunde über uns hereinbricht. Es donnert und blitzt in der Ferne, sodass uns Stadtmenschen schon ein wenig bange wird. Aber es ist immer noch trocken. Irgendwann schlafe ich ein. Nach einem anstrengenden Tag funktioniert das selbst bei derartigen Rahmenbedingungen ausgezeichnet. Nachts wache ich immer wieder auf. Die Mäuse veranstalten ein Wettrennen nach dem anderen