Indische Reisen. Ludwig Witzani

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Indische Reisen - Ludwig Witzani страница 4

Indische Reisen - Ludwig Witzani

Скачать книгу

der Tierwelt in der unmittelbaren Nähe des Menschen niedergelassen hat. An der Spitze dieser Säugetier-Verwandtschaft befindet sich in Indien natürlich seit urarischen Zeiten die heilige Kuh, die mit ihren fünf heiligen Produkten - Butter, Milch, Joghurt, Dung und Urin - die indische Großstadt mit der Aura des dörflichen Lebens anreichert. Wohin ich auch kam, überall waren sie schon da: Kühe standen in den Toreinfahrten und blickt mich nachsichtig an, Kühe lagen mitten auf der Straße und verließen sich darauf, dass die Motorrikschas schon um sie herumkurven würden, sie knabberten an dem Gemüse, das der Garküchenkoch für seine Gäste bereithielt und durchforschten die Abfallhaufen an den Straßenrändern. Erst auf einer sehr viel späteren Indienreise sollte ich erkennen, worin das sechste Geschenk der heiligen Kuh an die indische Moderne bestand. Wo wir in unseren Breitengraden mühsam Bodenwellen als Verkehrsberuhigung errichten müssen, die nebenbei bemerkt, keinerlei Milch oder Joghurt spenden, wirkte die indische Kuh inmitten des tosenden Verkehrs wie ein segensreiches Element der Verkehrsberuhigung.

      Inzwischen war ich in der Nähe der Yamuna angekommen und erblickte zum ersten Mal in meinem Leben jene merkwürdigen Gestalten, die wie bei einem hemmungslosen Aggressionsabfuhrtraining nasse Textilien mit maximaler Wucht auf runde Steine knallten. Ohne es geplant zu haben, war ich zum ersten Mal den Dhobiwallahs begegnet, die in ihrer unnachahmlichen Technik den Dreck aus den Sachen prügeln und dafür sorgen, dass das durchschnittliche, mehrfach gewaschene indische Hemd nur über sehr wenig Knöpfe verfügt und nur ganz selten wirklich staubfrei trocken werden kann.

      In Indien aber gab es an diesem Tag für mich nicht nur viel zu staunen, ich wurde auch selbst ausgiebig bestaunt. Einen allein reisenden Tourie sieht der Normalinder nicht alle Tage, so dass sich, wohin ich mich auch bewegte, sofort eine Gruppe freundlich interessierter Einheimischer um mich bildete. Sie rissen die Augen auf, zeigten mit den Fingern auf mich, steckten die Köpfe zusammen, um kichernd irgendwelche wunderlichen Details an meiner Erscheinung zu diskutieren. Einige sprachen mich auch an, wollten meinen Rucksack anfassen, meine Kamera bedienen oder einige Worte in mein Skizzenbuch schreiben. Wenn ich meinerseits mit den Fingern auf sie zeigte oder gar meine Linse auf sie richtete, machte das gar nichts. Der Inder ist ein epiphanisches Wesen, so anschauungsgesättigt wie seine Götter tritt auch er in Erscheinung, und ich gewann den Eindruck, als gäbe es für einen wildfremden Inder kaum eine angenehmere Schmeichelei als ihn möglichst oft zu fotografieren.

      Ich blickte auf die Uhr, es war Nachmittag geworden, und mein Hunger nahm zu. Aber was sollte ich essen? Die Bürgersteige im Umkreis des Chandni Chowk waren voller Garküchen, überall wurde in großen Pfannen gebrutzelt, doch die Köche hinter ihren großen Pfannen flößten mir kein Vertrauen ein. Mit ihren Fingern griffen sie beherzt ins Gemüse, manschten diese Soße in jenen Brei, schüttelten und rüttelten den Glibber bis zur Konsistenz, um die Paste dann auf hauchdünne Brotscheiben zu schmieren. Theoretisch war mir bekannt und heute weiß ich es ganz sicher, dass die indische Küche zu den leckersten und auch den gesündesten der Welt gehört, damals aber schockten mich die fremdartigen Gerüche und Speisen derart, dass ich mich nicht entschließen konnte, ein Gericht an einer Garküche zu ordern. Eine lecker aussehende Tomatensuppe roch wie eine Teufelsbrühe, und was in die Brotgerichte eingewickelt wurde, kam mir verdächtig vor. Thali, ein Reisgericht mit sehr vielen scharf gewürzten Gemüsesorten auf einem Feigenblatt serviert, kannte ich damals ebenso wenig wie Masala Dosa, das wunderbar schmackhafte Gemüsepotpourri, das auf papierdünnen Brotscheiben gereicht wird. Als Sprössling des Spaghettizeitalters überlegte ich, eines der undefinierbaren Nudelgerichte mit Gemüse und Fleischeinlage zu essen, doch der Koch, der über seiner Pfanne wie der Leibhaftige wütete, schreckte mich ab. Am Ende erwarb ich einige Chapatis - kross gebratenes, meist sehr dünnes, salziges Brot - knabberte vorsichtig an den Scheiben herum, um sie alsdann mit einem heißen Tschai herunter zu spülen. Der zweite Tschai dieses Tages schmeckte mir noch besser als der erste, er wärmte mich nicht nur, er weckte meine Lebensgeister, so dass ich in einem Anfall von Tollkühnheit beschloss, Delhi auf der Stelle zu verlassen. Ich lief zurück zu Ringos Guesthouse, grapschte mein Gepäck aus meinem Kerker, fand eine Rikscha und fuhr schnurstracks zum Bahnhof.

      Die erste Begegnung mit einem indischen Bahnhof werde ich niemals vergessen. So viele Menschen auf einmal hatte ich noch nie an einem Ort gesehen, und alle Menschen, die durch die Hallen liefen, hatten es unglaublich eilig. Hatte ich denn nicht bei Hermann Hesse von der unerschütterlichen Ruhe des indischen Gemüts gelesen, und sollte das denn alles nur gelogen gewesen sein? Von endlosen Schlangen vor den Fahrkartenschaltern hatte ich auch nichts bei Hesse gelesen und auch nichts davon, dass jedermann sich von links und rechts so lange in die wartende Reihe nach vorne drängte, bis man selbst die Geduld verlor und das Gleiche tat. Als ich es endlich geschafft hatte, zum Fahrkartenschalter vorzudringen, verlangte ich ein Ticket nach Agra, Khajuraho, Varanasi, wohin auch immer, es war mir egal, wenn ich nur endlich aus dieser kalten Dreizehn-Millionenstadt herauskäme. Der Beamte hinter dem Tresen nahm meinen Wunsch als das Selbstverständlichste von der Welt zur Kenntnis, schüttelte aber den Kopf und teilte mir mit, dass heute Weihnachten sei, und auch wenn 98 % der Inder mit dem Christentum nichts am Hut hätten, sei Weihnachten in Indien selbstverständlich frei, so dass alle Zugtickets schon seit Tagen ausverkauft seien. Wenn Sie aus Delhi wegwollen, mein Herr, müssen Sie sich schon mit einem Bus begnügen.

      So lernte ich eine gute dreiviertel Stunde später auch noch meinen ersten indischen Busbahnhof kennen, den Kaschmir Interstate Bus Terminal, an dem ich später noch so oft ankommen sollte, dass mich am Ende sogar die Bettler grüßten. Als ich ihn jedoch zum ersten Mal betrat, erschien er mir wie ein Notstandsgebiet des massenhaften Personentransportes, eine Welt fremder als der Mars, wo auf Dutzenden unüberschaubarer Rampen ebenso unübersehbare Gepäckberge lagerten, neben denen oder auf denen Menschen schliefen, während rappelvolle Busse einfuhren, in die zu meiner Überraschung ganze Menschenschwärme hineinströmten, als verfüge jeder dieser Busse in seinem Innern über die rätselhafte Fähigkeit, die Konsistenz der Passagiere so zu verändern, dass immer noch ein weiterer Passagier in diese rollenden Sardinenbüchsen hineingepresst werden konnte.

      Und da war er endlich, nach einigem Suchen unzweifelhaft identifiziert: mein erster indischer Langstreckenbus, ein rustikaler Schlitten, der hier auf dem Bahnhof sogar als Super Deluxe Coach rangierte und - was noch wichtiger war - der noch in der gleichen Nacht nach Süden fahren sollte. Natürlich waren schon alle Plätze besetzt, aber das war mir nun auch egal, ich machte rücksichtslos von meinen Dollarvorräten Gebrauch, kaufte dem Schaffner seinen Zusatzplatz in der Fahrerkabine ab, bestieg das Gefährt als Letzter, fand meinen Sitz neben den drei plärrenden Söhnen des Busfahrers und verließ die Stadt zur Zeit des Sonnenunterganges in Richtung Süden. Als es gänzlich dunkel geworden war und unser Bus wie ein stählernes Geschoss über die indischen Straßen raste, fiel mein Blick auf meine Armbanduhr. Es war schon nach zwanzig Uhr. Siebentausend Kilometer weiter westlich schmorten nun die Weihnachtsenten in den Öfen, und die Zeit der Bescherung brach an.

       III ERSTER TEIL - DIE GANGESEBENE

      

Bild

       IV Hunderte warten im Hotel auf ihre Todesstunde

      

       Leben und Sterben in Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges

      

Bild

      Es gibt Hotels für Einzelreisende und Frischverliebte, es gibt Stundenhotels, Sporthotels, Spukhotels, sogar ein Hotel für Hunde gibt es - ein Hotel für Sterbende gibt es nur in Indien. Erst wollte ich es nicht glauben, bis ich es mit meinen eigenen Augen sah: In großen Schlafsälen lagen Hunderte Menschen auf ihren Pritschen und warteten auf den

Скачать книгу