Indische Reisen. Ludwig Witzani
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Auf den ersten Blick sah es in Ayodhya nicht anders aus als in den meisten indischen Großstädten, die ich bis dahin besucht hatte. Für indische Verhältnisse handelte es sich sogar nur um eine relativ kleine Stadt - gerade einmal 40.000 Menschen lebten hier am Sarayu River. Ohrenbetäubender Lärm, Hupattacken, Staub und Hitze, Menschenmassen – zunächst das gewohnte Bühnenbild indischer Urbanität. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass Ayodhya anders war als andere Orte: Es gab kaum Banken, wenig Geschäftshäuser, dafür unzählige Pilger, die allein oder in Gruppen durch die Gassen gingen. Ich sah Bettler, Sadhus, Götterschreine und jede Menge Devotionalienbuden mit Skulpturen in allen Farben und Lebensgrößen. Ich befand mich in einer heiligen Stadt.
Natürlich gibt es in Indien jede Menge heiliger Städte. Heilig sind die vier Achsenstädte Rameswaram in Tamil Nadu, Puri in Orissa, Dwarka in Gujarat und Badrinath im Himalaja. In Allahabad, Haridwar, Ujjain und Nasik wird alle zwölf Jahre die Kumbh Mela gefeiert, das Fest des Kruges, und selbstverständlich sind auch diese Städte heilig. Daneben pilgern die Inder zusätzlich zu jenen Städten, die zu einer bestimmten Gottheit in einer besonderen Beziehung stehen – allen voran nach Varanasi, der heiligen Stadt Lord Shivas.
Längst nicht jedem Gott ist eine heilige Stadt zugeordnet, dafür gibt es einfach viel zu viele Götter. In der indischen Kolonialzeit wurde behauptet, es seien 330 Millionen, womit damals auf jeden Inder ein Gott gekommen wäre, was für das westliche Gemüt verwirrend ist, aber mehr als alles andere verdeutlicht, dass es sich mit den indischen Göttern ganz anders verhält als mit Jahwe, Jesus oder Allah. Vielleicht ist Ganesha auch deswegen bei den Touristen so beliebt, weil man ihn unter so vielen Göttern an seinem Elefantenrüssel immer unzweideutig identifizieren kann. Ganz anders verhält es sich zum Beispiel mit Vishnu, der neben Shiva alles überragenden Göttergestalt des Hinduismus. Vishnu ist der Schöpfer und Erretter der Welt, so liest man es immer wieder, aber wenn man der Überlieferung glauben darf, dann tat er das bereits sehr oft in den unterschiedlichsten Inkarnationen. In seinen ersten drei Inkarnationen erschien Vishnu in Tiergestalt auf der Erde. Als Fisch zog er vor der Erschaffung der Welt die große Arche, als Schildkröte trug er den heiligen Berg Meru, während der Milchozean gequirlt wurde, und als Rieseneber rettete er die gerade erst erschaffeneWelt vor den Tiefen des Urozeans. Als Löwe erschlug er sodann in seiner vierten Inkarnation die Dämonen, die die Welt bedrohten, um schließlich als Zwerg, der ins Unermessliche wachsen konnte, die Erde auszumessen und einzuteilen. Inzwischen war auch das Menschengeschlecht auf der Erde erschienen und mit ihm das Laster, sodass Vishnu in seiner sechsten Inkarnation als „Mann mit der Axt“ zum Schrecken der Verbrecher wurde. In seiner siebten Inkarnation erschien Vishnu schließlich in Ayodhya, und zwar in Gestalt Lord Ramas, der beispielgebenden Figur der altindischen Kultur. Deswegen ist Ayodhya Lord Ramas Stadt.
Davon konnte sich jeder überzeugen, der auch nur wenige Schritte abseits der Hauptstraße durch die Pilgerviertel schlenderte. Überall standen lebensgroße Skulpuren von Lord Rama, und auf den großen Bildern wurden Szenen und Motive seines Lebens in grellen Farben dargestellt: Rama mit seinem gewaltigen Bogen, Rama, der seinen Helfer Hanuman umarmt, Rama und seine Gattin Sita, Rama mit seinem tiaraartigen Helm. Die penetrante Allgegenwart des Gottes an jeder Ecke und Bude hatte etwas Beunruhigendes, ebenso wie die krasse Ärmlichkeit der Pilger, die durch die Gassen gingen.
Ayodhya war ein durch und durch innerindisches Pilgerzentrum. Nichts an seiner Erscheinung gehorchte ästethetischen Rücksichten, die Stadt war authentisch bis zu Schmerzgrenze, nur auf sich selbst bezogen und sich selbst genug. Die Verstümmelungen des Leprakranken an der Ecke, die Eiterwunden der bettelnden Kinder, die Glasknochen des Yogis, der unbeweglich in der Sonne saß, verdeutlichen eine Grunderfahrung der indischen Wirklichkeit: das Leben war ein Tal des Leidens, und nur in der Entsagung konnte es Erlösung geben.
Auch Lord Rama hatte in seiner irdischen Existenz viel leiden müssen – aber nicht nur. Denn Rama aber wäre nicht die Inkarnation Vishnus, die neben Krishna die höchste Verehrung genießt, wenn sich seine Wesenszüge nur im Leiden erschöpfen würden. Rama ist nicht Buddha, hatte mir einmal ein Inder erklärt. Wer ihm etwas nimmt, dem zieht er die Ohren lang.
Für den gläubigen Hindu wurde Rama vor undenklichen Zeiten als Sohn des Königs von Ayodhya in Nordindien geboren. Schon als Prinz stach er unter seinen Brüder durch Tapferkeit, Kraft, Wohlgestalt und Charakter hervor, lauter Eigenschaften, die dazu beitrugen, dass er die schöne Sita zur Frau gewann. Infolge einer Intrige am Hofe seines Vaters musste Rama allerdings mit seiner Frau Sita in die Verbannung gehen, in der er unerhörte Heldentaten beging, bevor ihm der Dämon Ravana seine Frau Sita raubte. Unterstützt vom Affenkönig Sugriva und seinem Minister Hanuman verfolgte Rama den Ravana bis nach Sri Lanka, wo es ihm gelang, seinen Widersacher zu töten und seine Gattin Sita zu befreien. Diese Geschichte mit ihren kaum überschaubaren Einzelheiten und Nebenhandlungen gehört als „Ramayana“-Epos mit weit über 20.000 Zeilen zum Kernbestand der hinduistischen Kultur. Redlichkeit und Treue, Verlust und Wiedergewinn, Gerechtigkeit und Schuld, Entsagung und Reue – ein ganzer Kosmos ethischer Verhaltensweisen wird dem heranwachsenden Hindu anhand der Geschichten aus dem Ramayana-Epos als vorbildliches Verhalten vorgeführt.
So konnte es nicht ausbleiben, dass die Ramaverehrung mit einem kämpferischen Islam in Konflikt geriet, der seit dem 13. Jahrhundert immer größere Teile Indiens eroberte und für den die Hindugötter nichts weiter waren als widerliche Götzen, die es zur Ehre Gottes von der Erde auszutilgen galt. Die damit verbundene Gewaltanwendung und Zerstörung Hunderter hinduistischer Verehrungsstädten im ganzen Land hatte das Verhältnis von Islam und Hinduismus dauerhaft zerrüttet - doch nirgendwo hat der Konflikt eine derartige Intensität angenommen wie in Ayodhya. Lord Ramas Stadt ist zum Kristallisationspunkt eines gesamtindischen Religionskonfliktes geworden, der das Land zu zerreißen droht.
Die Ursprünge des Konfliktes reichten bis in das Jahr 1528 zurück, als der erste Großmogul Babur im Pilgerviertel von Ayodhya die Babri-Moschee errichteten ließ, ein Gotteshaus, das im Schatten des hinduistischen Pilgerbetriebes verblieb und nur wenig genutzt wurde. Obwohl immer wieder behauptet wurde, diese Moschee sei auf den Trümmern eines älteren Ramatempels und genau an dem Ort errichtet worden, an dem Lord Rama geboren worden war, blieben die Verhältnisse in Ayodhya unter der britischen Kolonialherrschaft jahrhundertelang ruhig und unaufgeregt.
Wirklich virulent wurde der Konflikte von heute aus betrachtet unmittelbar nach der indischen Unabhängigkeit durch das so genannte „Wunder von Ayodhya“, das sich am 22. Dezember 1949 ereignet haben soll. Umgeben von einer glühenden Aureole soll sich Lord Rama vor den Augen der Gläubigen in das Innere der Babri-Moschee von Ayodhya begeben und sich dort niedergelassen haben. Der damalige indische Ministerpräsident Nehru reagierte sofort und tat das einzig Richtige: Ehe sich die allgemeine Hysterie unter Hindus und Moslems voll entfalten konnte, ließ er die Moschee besetzen und sie für Moslems und Hindus gleichermaßen sperren.
Damit aber war das Problem in der Welt – die Hindus beklagten, das Lord Rama in einer Art Käfig in der Moschee gefangen sei und befreit werden müsse, die Moslems forderten die Räumung und Instandsetzung der besetzten Moschee, die von Jahr zu Jahr mehr verfiel. Und tatsächlich spross bald auf dem Moscheevorhof das Gras aus den Fugen, und die Risse im Gemäuer wurden immer bedrohlicher.
Trotzdem eskalierte der Konflikt zunächst nicht weiter. In der Fähigkeit, in unmöglichen Zuständen auf Dauer zu leben, macht dem Inder so schnell niemand etwas vor, und tatsächlich blieb es in Ayodhya fast dreißig Jahre lang relativ ruhig. Erst mit dem Erstarken des Hindunationalismus in den Achtzigerjahren des