Indische Reisen. Ludwig Witzani
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Der Haupttempel Varanasis war der Shiva geweihte Vishwanath-Tempel, der wegen seiner kostbaren Ummantelung im Volksmund auch als der "Goldene Tempel" bezeichnet wurde. Shiva, der nach einem unzutreffenden westlichen Vulgärverständnis allein als der Gott des Wandels oder der Zerstörung definiert wird, repräsentiert für den gläubigen Hindu in Wahrheit sämtliche Aspekte des Göttlichen: Shiva trank das Gift des Urozeans und machte damit die Erschaffung der Welt erst möglich, aus seinen Haaren floss Mutter Ganga auf die Erde, er ist der große Asket, der Tänzer, Richter oder das abstrakte Prinzip des Lebens, das in ganz Indien in Gestalt des phallusartigen Lingam verehrt wird. Er ist der personifizierte Traum Indiens von der Übersteigerung allen Lebens ins Göttliche.
Leider war auch der Vishwanath-Tempel für Nichthindus strengstens verschlossen. Um wenigstens einen umrisshaften Überblick über den Goldenen Tempel zu erhalten, erkletterte ich die Emporen umliegender Handelshäuser und erkannte, dass nicht nur die Straßen und Plätze der Stadt Varanasi, sondern auch ihre Dächer übervölkert waren. Dort sah ich eine Großfamilie auf dem Dach eines unverputzten Hauses um eine Feuerstelle hocken, nebenan ließen Kinder Drachen steigen, auf anderen Dächern kochten die Mütter, von ihrem Anhang umgeben, die Abendmahlzeit.
Der Tag war bereits fortgeschritten, der Nebel war einem kalten Himmelsblau gewichen, und die Sonne hatte jenen Tiefstand erreicht, der allen Dingen ihre magischsten Farbtöne entlockte. In den schmalen Gassen des Basarbezirks unter mir brodelte die Geschäftigkeit, und das späte Licht der Sonne fiel wie eine helle Flamme auf die Türme und Zinnen des Goldenen Tempels. Ein Konzentrat der indischen Vielfältigkeit gerann in dieser Stunde zu einem einzigen Bild: Der Händler, der tief unter mir seine bunten Ballen rollte, die tanzenden Affen in den Tempelnischen, und ein in sich versunkener Gläubiger an Shivas Brunnen beschenkten mich mit einer Minute des Glücks.
V Nur eine Haltestelle auf dem Weg nach Indien
Ein Besuch in Buddhas Geburtsort Lumbini an der indisch-nepalesischen Grenze
547 Leben hat Buddha benötigt, ehe er zu seiner letzten Geburt in Lumbini ansetzte, wo er gleich nach seiner Entbindung verkündete, dies werde sein letzter Erdenaufenthalt sein und er sei nur noch einmal erschienen, um der Welt die Erleuchtung zu bringen. Auch auf die Gefahr hin, einen Kalauer zu produzieren: Dass Buddha gleich nach seiner Geburt erklärte, er wolle nie mehr wiedergeboren werden, kann jeder verstehen, der die Umgebung von Lumbini zum ersten Mal erblickt.
Für den Liebhaber des historischen Films, der mit der üppigen Geburtsszene aus Bernardo Bertoluccis "Little Buddha" im Gedächtnis dem Bus entsteigt, glich der erste Anblick von Lumbini einem Schock. Sicher mochte es hier einmal grün gewesen sein, aber das war wohl schon Jahrtausende her, und statt der Dschungelwiesen, auf denen der wackere König Suddhodhanna seinen Sohn Gautama Siddhartha seinen Kriegern präsentiert hatte, prägten Hitze und Staub das Bild einer steinigen Landschaft. Topfeben und heiß erstreckte sich von Lumbini aus die indische Tiefebene über Hunderte von Kilometern bis weit über Ganges und Yamuna hinaus, und in den letzten beiden Monaten vor den Monsun verwandelte sich diese Gegend in einen glühenden, knochentrockenen Rost, auf dem alle Lebewesen brieten.
Ich hätte den Geburtsort Buddhas gerne in einem „Großen Fahrzeug“ erreicht, doch das einzige Gefährt, das immerfort kreisend wie das Rad der Vergeltung von Bhairawa nach Lumbini und von Lumbini nach Bhairawa fuhr, war als Bus eigentlich nur daran zu erkennen, dass er über vier Räder, ein Lenkrad und eine Hupe verfügte und dass er sich, wenngleich langsam, so doch unleugbar fortbewegte. Aber aller Mangel, so lesen wir im buddhistischen Tripitaka, ist nur die Vorstufe zur Erkenntnis, und so gab mir die zeitlupenhafte Fortbewegung unseres rollenden Käfigs und das Fehlen jeglicher Fenster ausreichende Muße, die Mannigfaltigkeit des nordindischen und südnepalesischen Menschenschlages zu studieren. Ganoven und Gurus, Hungerleider und Gutbetuchte warteten an den Haltestellen des Terai auf den Bus. Manche reisten mit Stock und Bündel, andere in gebügelten Gewändern, manche trugen ihren Turban wie eine Krone, wieder andere erschienen in Lumpen und zerrissenen Dhotis am Buseingang.
Nur etwa zweihundert Rupien, umgerechnet etwa 1,50 Euro, kostete das Bett im einzigen Guesthouse des Ortes, der Lumbini Lodge - und dies, obwohl eine Übernachtung in der Lumbini Lodge einer kostenlosen Einführung in die buddhistische Lebenslehre glich. Nichts in der empirischen Welt hat wirklich Bestand, lehrte der Erleuchtete, und tatsächlich: Kaum lag ich abends nass geschwitzt auf dem schmalen Bett, gaben die dünnen Holzroste unter meinem Gewicht nach, und unsanft landete ich in jenem Staub, aus dem alles Leben entsteht und wieder verschwindet. Doch durch die Betten bin ich auf meine Reisen schon oft gefallen, und ich wollte zufrieden sein, wenn sich die nächtlichen Prüfungen an Buddhas Geburtsort allein auf dieses Malheur beschränkten. Aber ich hatte Lumbinis Mücken nicht auf der Rechnung, jene heruntergekommene Wesen auf der Lebensleiter der Wiedergeburt, die sich allnächtlich unter den Schläfern Lumbinis ihre Opfer suchten und die mich glatt an der Weisheit des Karmas zweifeln ließen. Denn es war mir bei aller Demut an diesem heiligen Ort nur schwer verständlich, warum diese satanischen Inkarnationen der absoluten Heimtücke und Gemeinheit sich an meiner doch immerhin beträchtlich höher entwickelten Wiedergeburt so wohlfeil und gefahrlos laben durften. Sie saugten sich voll mit meinem Blut, sie durchstachen Strümpfe, Hose und Shirt, und mein geballter Hass, der mich motivierte, mit meinen Schlappen einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen, brachte mich schließlich nur zu der Erkenntnis, dass sich der Übernachtungsgast in der Lumbini Lodge gegenüber den Mücken Lumbinis etwa in der gleichen Position befand wie die Lachse Alaskas gegenüber den Grizzlybären: Man war gänzlich ohne jede Chance, und je eher man sich dazu durchrang, jeden Stich als Buße für eine irdische Verfehlung zu begreifen, desto besser.
Kaum war die Sonne nach dieser Nacht des Leidens aufgegangen, verließ ich mein stickiges Schlafgefängnis und begrüßte, zerstochen und fertig mit der Welt, den Anbruch eines neuen Tages. Die Mütter rollten die Matratzen von den Dächern, und die Männer marschierten in langen Reihen mit Kopftuch, Hacke, Dhoti und Spaten zur Feldarbeit. Erstaunlich adrett gekleidete junge Frauen erschienen in den Türrahmen ihrer Häuser, um beachtliche Lasten über die Straßen zu schultern: Holzlatten, Körbe, Kisten, Kinder oder was immer es an diesem Tage von dem einen Ort zum nächsten auch zu tragen gab. Schließlich rasten einige Knaben, von kläffenden Hunden verfolgt, mit ihren Schulbüchern zum Bus, der sie zur Schule nach Bhairawa bringen würde, während als letzte Akteure die Ladenbesitzer auf der morgendlichen Bühne des Dorfes erschienen - fette, behäbige Männer, die mit der Würde der Honoratioren die Gitter vor den Läden entfernten und beim ersten Tschai des Tages ihren Morgenplausch begannen.
In jenen alten Zeiten, in denen das Licht