Indische Reisen. Ludwig Witzani

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Indische Reisen - Ludwig Witzani

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Überall wurde geschmatzt und gelacht, Familien waren unterwegs, und hoch über dem verkehrsfreien Platz vor dem Lahore Gate wehte die indische Staatsflagge, seit sie zum ersten Mal am 15. August 1947 anstelle des Union Jack aufgezogen worden war.

      Über zwei Kilometern Länge und in einer Höhe zwischen 18 und 34 Metern erstreckten sich die titanischen Wälle des Roten Forts am Rande Alt-Delhis. Heute ein alter geschändeter Riese aus Stein, hätte es das Rote Fort in seiner Glanzzeit mit den schönsten europäischen Barockschlössern aufnehmen können - in seinen gepflegten Gartenanlagen, den aufwendigen königlichen Bädern, in der großen Audienzhalle mit dem Thron des Herrschers, mit dem Diwan-i-Khas, seinen silbernen Decken und dem sagenhaften Pfauenthron erreichte die Kunst der Mogulzeit ihren letzten Zenit.

      Nach Aurangazebs Tod im Jahre 1707 aber war es mit dieser Pracht vorbei. 1739 eroberte Nadir Shah von Persien Shahjahanabad, plünderte die Kostbarkeiten des Forts, ließ die Edelsteine des Diwan-i-Khas aus den Wandfassungen reißen und den sagenumwobenen Pfauenthron entführen. 1760 montierten die Marathen die Silberdecken ab und hinterließen die berühmte Audienzhalle in ihrem beklagenswerten heutigen Zustand. 1858/9, nach dem misslungenen Sepoy-Aufstand gegen die britische Herrschaft, wurden auf Anweisung der Engländer in einem Akt bemerkenswerter kolonialgeschichtlicher Barbarei die prächtigen Haremspaläste in der Mitte des Forts abgerissen, um Platz für hässliche Militärkasernen zu schaffen.

      Solchermaßen von der Geschichte gebeutelt, machte das Rote Fort auf den heutigen Besucher nur noch wenig Eindruck. Die Gebäude und Gärten waren ungepflegt, es wurde gegen die Palastwände gepinkelt, und die indischen Familien verteilen die Überreste ihrer Picknicks flächendeckend über die karge Wiese neben der Perlmoschee des Aurangazeb. Der Pfauenthron war weg, die Teiche waren leer, und auch die Gewässer der Yamuna, die noch zu Shahjahans Zeiten an die östlichen Mauern des Forts reichten, hatten ihren Lauf verändert. Von den Zinnen des Forts blickte der Besucher nun auf die staubige Landfläche, die im Lauf der Jahrhunderte zwischen die Mauern des Forts und dem Fluss angeschwemmt worden war. Hier trockneten die Dhobbiwallahs ihre Wäsche, dort grasten die Kühe und an einer anderen Stelle reparierte ein Rikschawallah sein Gefährt. Ein kleiner Wald versperrte den Blick auf das Gandhi Memorial im Südosten, jenem Ort, an dem nach der Ermordung Gandhis im Jahre 1948 eine Million Menschen der Einäscherung des Mahatmas beigewohnt hatten. Nur die Ring Road, die stark frequentierte große nördliche Ausfallstraße Delhis, konnte man von den Zinnen des Roten Forts aus beobachten: Kühe, Kamele, Fußgänger, Fahrräder, Busse und Lastwagen bewegten sich wie eine Karawane langsam über den Horizont.

       VIII Krishna wird die Yamuna retten

      

       Mathura und Vrindaban

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      Sie kamen aus Etawah und Agra, von Tudna und Shikodabad, manche waren einige Tage, andere schon einige Wochen auf der Straße. Die meisten waren zu Fuß unterwegs, ihren Henkelmann in der Linken und in der Rechten einen Wanderstock, eine Fahne oder ein Plakat mit einem Götterbild. Schon lange bevor Mathura erreicht war, hatten sie den Verkehr behindert, Bahnübergänge blockiert und bereits die ersten Auseinandersetzungen mit der Polizei durchgestanden. „Bull Power“ stand auf einem großen Transparent über einem von zwei Rindern gezogenen Karren, und an beiden Seiten des Gefährts waren Bilder eines dunkelhäutigen Gottes befestigt. Es ging um Krishna, und das hieß: Es ging um Gerechtigkeit.

      Niemand wird Indien je verstehen, der nicht weiß, wer Krishna ist. Ganz Indien ist voller Krishnas – Krishna der Hirte, der mit den Gopis scherzt, Krishna der Held, der den bösen König Kamsa tötet, Krishna der Liebhaber der wunderbaren Radha, Krishna, der Wagenlenker Arjunas und der Verkünder der Baghavad-Gita. Krishna ist allgegenwärtig - als Murti in den Tempelschreinen, als Idol auf dem Armaturenbrett unseres Busfahrers, als Götterbildchen in der Brieftasche des Teppichhändlers und als Parole aller Menschen, die sich gegen Unterdrückung wehren. Millionenfach abgebildet in allen nur denkbaren Erscheinungsformen gleichen die immer neu erzählten Krishna-Legenden kollektiven Beschwörungen einer idealen indischen Welt, in der die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, der Gewinn der vollkommenen Liebe, aber auch die friedvolle Wiedervereinigung mit Gott endlich zur Deckung kommen.

      Die Bauern, Händler, Mönche und Tagelöhner, die über Hunderte von Kilometern durch Uttar Pradesch nach Delhi wanderten, protestierten im Namen Krishnas gegen den Tod der Yamuna. Denn die Yamuna, einer der heiligsten Ströme Indiens, die im Himalaja entspringt, Delhi und Agra durchfließt und sich im Süden bei Allahabad mit dem Ganges vereinigt, war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Seitdem der Harikundh-Staudamm nördlich von Delhi das frische Wasser der Yamuna umleitete, war der einst so prachtvolle Strom zum Rinnsal geschrumpft, aufgefüllt nur noch durch den Regen und die Abwässer der Millionen, die an den Ufern des Flusses lebten. Das Wasser der Yamuna, von dem es hieß, es würde die Sünden abwaschen und das Karma verbessern, machte nun krank: Es transportierte eine katastrophale Fracht von Kolibakterien, die keine Kläranlage mehr eliminieren konnte. Schon seit Jahren wurde alles, was mit diesem Wasser in Berührung kam oder aus ihm bestand, beeinträchtigt, verdorben, unbrauchbar – die Salate, das Obst, das Trinkwasser - und alle Versprechungen der Regierung, endlich Abhilfe zu schaffen, waren nicht eingehalten worden.

      Kurz vor Mathura brach der Verkehr unter dem Ansturm der Demonstranten endgültig zusammen. Es ging nur noch meterweise voran, der Busfahrer fluchte und hupte, ehe er resignierte, die Türen öffnete und die Fährgäste aufforderte, den Rest der Strecke bis zur Innenstadt zu Fuß zu gehen. Ich hatte nicht mehr als eine Reisetasche dabei, die ich bequem über der Schulter tragen konnte, und so machte es mir wenig aus, mich in die Menschenmenge einzureihen und ihr bis in die Innenstadt zu folgen. Links und rechts von mir gingen Jugendliche, die aussahen, als kämen sie geradewegs aus der Schule, zahlreiche Frauen waren unterwegs, grazil und entschlossen marschierten sie neben ihren Männern, kräftigen Kerlen mit Lederhaut und groben Knochen, die mit ihren unempfindlichen Sohlen über alle Unebenheiten der Straße hinwegschritten. Über der Menge, die sich wie eine zähflüssige Schlange aus Menschenleibern in die Innenstadt drängte, wehten die gelben Fahnen Krishnas, hin und wieder erklangen Gesänge, dann wurden Parolen rhythmisch skandiert, Trommel waren zu hören, Fäuste wurden geschwungen. Befand ich mich nun in einer Demonstration oder einer Prozession - oder ist das in Indien womöglich das Gleiche?

      Anstatt die Umgehungsstraße zu benutzen, hatte der Großteil der Demonstranten den Weg mitten in die Altstadt von Mathura eingeschlagen, um vor dem Sri-Krishna-Janmaboouni-Tempel zu demonstrieren. Hatte nicht auch Lord Krishna in den altvorderen Zeiten die tyrannische Obrigkeit in Gestalt König Kamsas besiegt und die Stadt Mathura befreit? Vorher war er nach dem Glauben seiner Anhänger jedoch in einer Kerkerzelle geboren worden – jener Kerkerzelle, die als Sanktuarium heute das Herz des Sri-Krishna-Janamboouni-Tempel bildete. Deswegen wollte auch ich diesen Tempel besuchen, doch als ich die Massen erblickten, die sich in hoffnungsloser Verkeilung vor Treppe und Tempeleingang pulkten, drehte ich in eine der zahlreichen Seitengassen ab. Für den Tempel war später noch Zeit, nun stand mir erst einmal der Sinn nach einer vernünftigen Unterkunft.

      Doch Mathura war kein typisches Travellerziel, und die Guesthäuser, von denen es in Agra und Delhi so reichlich gab, suchte man hier vergebens. Aber auch die normalen Hotels waren ausgebucht bis auf das letzte Bett, was mich nicht überraschte, als ich auf den Kalender blickte. Der indische Monat Phalguna war angebrochen, und übermorgen würde das gesamtindische Holifest beginnen, während dessen das ganze Land in eine temporäre Heiterkeitsraserei verfallen würde. Alle Familien, die es sich leisten konnten, begaben sich an diesen Tagen an einen prominenten Ort, um das Fest stilvoll zu begehen.

      Beim Holifest handelt es um eines der zahlreichen Frühlingsfeste, die alljährlich in den unterschiedlichsten Formen in Indien begangen werden. Wo sich in Thailand die Menschen zum Frühjahresanfang

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