Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich
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Der andere Autor, Nirad C. Chaudhuri, ist im Gegensatz zu Naipaul in Indien aufgewachsen und ausgebildet, aber ein Bewunderer der britischen Kultur. Er erhält – wenn auch ziemlich spät – ein ansehnliches Forschungsstipendium aus Großbritannien und dort Zugang zu vielen exklusiven Archiven. Er reflektiert die Geschichte seines Landes, die koloniale Vergangenheit und natürlich den gegenwärtigen Zustand seines Landes und verfaßt das Buch „Autobiography of An Unknown Indian“. Auch er sieht Dunkles, nicht nur eine Region im Dunkeln, aber er flüchtet nicht. Wohin auch? Er beschreibt engagiert das Übel. Seine „halbgebildeten“ Landsleute ruinierten das Land – Bürokraten, Politiker, Wissenschaftler, weil sie weder traditionell noch modern, sondern eigentlich „nichts“ seien. Sie trügen unter der europäischen Hose doch noch das indische „Lendentuch".
Auf diese Art von Ungereimtheiten können wir uns in Diskussionen im Speisesaal einigen. Was sie über uns denken und was sie über uns später erzählen, haben wir nicht erfahren. Aber ich erzähle eine kurze Geschichte, eine beispielhafte wie ich meine, die unsere Einschätzung der dort erlebten Situation plastisch wiedergibt.
Wir sitzen bereits am Mittagstisch. Ein gutgekleideter Herr kommt herein, eben nicht leger gekleidet, ohne einen PA zwei Meter hinter sich, schaut im Saal herum, taxiert die Gäste, schreitet zu unserem Tisch und fragt formvollendet, ob er an unserem Tisch Platz nehmen darf. Natürlich darf er. Er stellt sich vor, wir uns auch. Eine normale Situation. Er ist Direktor eines Universitätsinstituts für „Business Management“. Er ist verabredet mit dem Vice Chancellor der Universität Rajasthan, der, wie schon berichtet, ein Nationalökonom ist. Wir tauschen unsere Meinungen aus. Themen: Modernität, Fortschritt, wirtschaftliche Entwicklung, was sonst? Auch er hat Auslandserfahrung. Ein „moderner“ Mensch also.
Nach dem Mittagessen trinken wir Kaffee. Plötzlich will er wissen, wie spät es schon ist. Auch er hat eine Armbanduhr. Ich sage ihm die Zeit nach meiner Uhr, wenige Minuten vor 14 Uhr. Er schaut nun auf seine Uhr. Seine Uhr geht genauso wie meine Uhr, zeigt dieselbe Uhrzeit. Er ist ernsthaft beunruhigt. Denn sein Termin ist um 14 Uhr. Der Vice Chancellor hat ihm versprochen, rechtzeitig einen Dienstwagen zu schicken. Der Wagen ist immer noch nicht da. Ich erkundige mich, ob der Termin in dem Büro des Vice Chancellors oder in seiner Residenz ist. Der Termin ist in der Residenz. Ich bedeute ihm, daß der Fußweg vom Gästehaus bis zu seiner Residenz nur etwa eine Minute lang ist. Mit dem Wagen mindestens 10 Autominuten. Wir würden so lange in der Empfangshalle warten, falls der Wagen doch noch kommt. Wir können auch telefonieren und Bescheid sagen, daß er schon zu Fuß unterwegs ist. Nein, er ist nicht damit einverstanden. Er wartet, macht sich selbst verrückt, macht uns verrückt. Und wir sind auch blöd genug, uns nicht zu verabschieden. Der Wagen kommt etwa um 14.18 Uhr. Er geht hinauf zu seinem Zimmer und holt seine Aktenmappe. Geht dann gemächlich zum Dienstwagen. Er hatte seine ruhige Art wieder.
Eine völlig überflüssige Vereinbarung mit dem Dienstwagen? Heute bin ich nicht mehr so sicher. Der Nationalökonom macht den Vorschlag, um möglicherweise seinem Diskussionspartner symbolisch mitzuteilen, daß er in der Lage ist, seine Gesprächspartner mit seinem Dienstwagen abholen zu lassen. Wie viele sind in der Lage, dieses Privileg zu demonstrieren? Der Dienstwagen macht vier Fahrten von je 10 Autominuten. Der Betriebswirt ist geehrt. Er glaubt aber seine Wichtigkeit eventuell zu verspielen, wenn er den Fußweg von einer Minute nimmt und seine Aktentasche selbst trägt. Lieber regt er sich selbst und uns auf. Moderne Rituale eben.
Wie schon erwähnt, sind die Suiten im Gästehaus großzügig ausgelegt. Die Eingangstür führt zu einem Raum mit Sitzgelegenheiten. Eine Tür von diesem Raum führt zum Schlafzimmer und von dort eine Tür zum Badezimmer. Das Badezimmer hat nur eine Duschmöglichkeit und ein Klo mit Wasserspülung. Die Wasserspülung hat Tücken. Der Tank ist etwa in zwei Meter Höhe angebracht und mit einem Kettenzug versehen. Die Höhe stellt den nötigen Druck bei der Spülung sicher. Technisch eigentlich unproblematisch, solange sich kein Reibungsverschleiß bei der Kette eingestellt hat. Mit dem Verschleiß entsteht das Problem, daß nicht jeder Zug der Kette die Spülung in Gang setzen kann, sondern nur ein Zug in einem bestimmten Winkel. Da helfen weder häufige noch kräftige Züge. Eine verhängnisvolle Tücke. Außerdem gibt es keine indischen Städte mit 24stündiger Wasserversorgung. Deshalb haben alle städtischen Gebäude einen Tank auf dem Dach. Eine elektrische Pumpe sorgt dafür, daß das Wasser den Tank versorgt. Wenn das Wasser in diesen Tanks verbraucht ist, wird auch die Wasserspülung für das Klo nicht versorgt. Das ist die zweite Tücke. Auch die elektrische Versorgung ist nicht ohne Unterbrechung, „load shedding“ heißt der unregelmäßig regelmäßige Stromausfall. Wenn der Strom tagsüber ausfällt, muß man schwitzen, weil die elektrischen Ventilatoren nicht mehr die Verdunstungskühle erzeugen können. In der Dunkelheit beim Stromausfall sind noch Kerzen nötig. Wenn aber der Strom just in den Zeiten ausfällt, in denen auch das Wasser fließt, dann bleibt der Tank halt unversorgt. Wir sind mittlerweile alte Hasen im Gästehaus. Wir kennen diese Tücken und sorgen schon vor.
Erstaunlich viele „abendländische“ Besucher im Gästehaus sind einfach Wissenschaftstouristen. Jaipur gehört zum Touristendreieck zwischen Agra und Neu–Delhi. Delhi hat eine alte Universität, Jaipur und Agra sind spätere Universitätsstädte. Auch die kurzweiligen Besucher aus den USA sind eigentlich insofern keine Touristen, weil ihre Reise– und Aufenthaltskosten von einer Stiftung 100 % abgedeckt werden. Diese Stiftung hat ihren Sitz in Neu–Delhi, heißt „Asia Foundation“, ist aber doch eine reine US–Stiftung. Sie finanziert alle möglichen Veranstaltungen, großzügig, weil sie immense Einnahmen in nicht konvertierbaren Rupien hat. Wieso?
„Modernisierung“ durch wirtschaftliche Entwicklung beschreitet manchmal seltsame Wege. Die US–Wirtschaftsexperten überzeugen oder überreden indische Wirtschaftsplaner, im fruchtbaren Weizenland Zuckerrohr anzubauen, weil die Zuckerausfuhr in die USA für Indien ungeahnte Möglichkeiten öffnen würde, wertvolle Devisen zu verdienen. Indien hat einen chronischen Divisenmangel und kann nicht die notwendigen Maschinen für die Modernisierung importieren. Die USA hat schon mehr als einen Boykott über den Zuckerimport von der Zuckerinsel Kuba verhängt. Die USA brauchen Zucker und haben Weizen in Überfluß. Also könnte Indien den ungedeckten Weizenbedarf durch begünstigte Einfuhr aus den USA abdecken. Begünstigt insofern, daß Indien die Einfuhr mit nichtumtauschbaren indischen Rupien zahlen durfte. Diese Vereinbarung ist als „PL 480“ in die Geschichte eingegangen. Mit der Zuckerausfuhr hat Indien wenig Vergnügen. Denn die eingenommenen Devisen muß es für den Transport des Weizenimports ausgeben, weil nach dieser Vereinbarung dieser Transport nur mit US–Frachtschiffen vonstattengehen durfte. Die Transportkosten mußte Indien in harter Währung zahlen. Zu US–Tarifen, versteht sich. Die USA häuften indische Rupien an. Für die Verwertung dieser Rupien wurde die „Asia Foundation“ gegründet. Diese reiche Stiftung investiert nun in alle möglichen Austausch– und Forschungsprogramme, die halt schlichte Politikfinanzierung, Meinungsmache und Spionageprojekte sind.
Also sind die Wissenschaftstouristen dem Gästehaus der Universität immer im Voraus angekündigt. In der Regel kommen sie in der Dunkelheit an, damit sie von dem Tag was gehabt haben. Die Tische werden schon in aller Ruhe nachmittags gedeckt. Herrlich gekocht. Ein Gedeck mit mindestens 4 Gängen. Es ist auch ein Augenschmaus. Nach der Ankunft wird reichlich geduscht. Das Wasser fließt ja und der Tag war heiß. Dann stürzen sie sich mit einem riesigen Appetit auf das Lukullische. Der Reiz ist ins unermeßliche gesteigert, wenn das Ganze im Kerzenschein vonstatten geht. Beim verführerischen Nachtisch ist ein Nachschlag selbstverständlich. Meine Frau und ich spekulieren darüber, um wie viel Uhr wohl heute „Akbars Rache“ einsetzen wird. Der programmierte Durchfall zwischen 2 und 3 Stunden nach dem Gaumengenuß. In der Regel kurz vor Mitternacht. Meist begleitet von Stromausfall. Und wenn „Akbars Rache“ einsetzt, bleibt kaum Zeit zum Kerzen anzünden. Die Wasserspülung tut es nicht. Die Stille der Nacht ist dahin. Geräusche von Metalketten, Fluchen aus allen Zimmern. Ein Höllenkonzert. Am nächsten Morgen, bleiche Gesichter und eine Handvoll Pillen zum Frühstück.
Alle sind im Voraus gewarnt. Sie sind auch vorsichtig. Aber was können sie machen, wenn das abgekochte Wasser nicht lange genug gekocht hat?