Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
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Mich trifft Ellens ungläubiger Blick. Aber sie lässt sich von mir erweichen, scheint aber nicht gerade glücklich über meine Entscheidung zu sein.
Erik wirft seiner Schwester einen Handkuss zu. Doch sein Blick wirkt unergründlich und wenig freundlich. Fast erscheint mir seine Geste verächtlich, statt geschwisterlich zugetan. Er ist offensichtlich von Haus aus kein netter Typ. Aber das hatte Ellen mir in den letzten Tagen auch schon mehrfach zu verstehen gegeben.
Trotzdem werde ich bei den beiden fast schon ein wenig melancholisch. Immerhin haben sie ein normales Geschwisterverhältnis. Nicht wie ich und Julian.
Erik bringt uns tatsächlich ein Bier, das er mit einer theatralischen Bewegung vor uns öffnet. Dabei grinst er seine Schwester unverschämt an.
Ich bin etwas verwirrt. Hatte er nicht letztes Wochenende braune Augen wie Ellen? Seine Augen wirken heute seltsam dunkel und seine langen, dichten Augenwimpern tonnenschwer und geben seinem Blick etwas Verwegenes. Aber mir fällt trotzdem wieder auf, dass die beiden sich sehr ähneln. Erik hat das gleiche feingeschnittene, schmale Gesicht, aber eine gerade Nase, während Ellens etwas schief ist. Außerdem hat er breite, interessant geschwungenen Augenbrauen, die dunkler sind als seine blonden Locken, die ihm heute wild ins Gesicht fallen.
Ellen nickt nur, als wäre ihr das Flaschenöffnen auf diese Weise wichtig. Warum auch immer. Hier kann es schließlich nicht darum gehen, dass sie untergeschobene Drogen oder KO-Tropfen befürchtet.
Wir werfen uns zusammen in den freien Sessel und sehen uns dicht aneinandergedrängt die Videos an.
„Prost!“, raune ich ihr zu.
„Prost!“, antwortet sie und wir lassen die Flaschen aneinander klirren. Sie scheint ihre Wut langsam wieder herunterzufahren.
Interessiert schaue ich mich in dem Raum um und sehe Erik am Schrank lehnen und uns beobachten. Schnell sehe ich weg. Er ist mir heute irgendwie unheimlich.
Noch ein neuer Pulk junger Leute trifft ein und der Raum füllt sich noch mehr. Ellen winkt Daniel zu, der ihr einen Handkuss zuwirft. Er ist der Fahrer des BMWs, der uns letzten Samstag nach Hause brachte.
Ich bin von seiner Geste überrascht und seine blauen Augen ruhen ausschließlich auf Ellen, als wäre sie sein Universum. Dabei streicht er sich durch sein kurzes, dunkles Haar.
„Hu, was war das denn?“, frage ich neugierig und spreche auf den Handkuss an.
Ellen grinst. „Du meinst wegen Daniel? Der ist voll süß und wir waren Mittwoch noch zusammen im Kino“, flüstert sie und ich knuffe ihr in die Seite. „Soso!“
Sie hatte mir nichts davon erzählt, aber ich erinnere mich, dass sie es am Mittwochabend sehr eilig hatte.
Zwei Videos später, und nach dem leeren des Biers, wird Ellen unruhig.
„Ich gehe mal eben aufs Klo. Kann ich dich hier einen Moment allein lassen?“, fragt sie.
Ich nicke.
Sie schiebt sich aus dem Sessel und geht.
Ich bin froh, etwas mehr Platz zu haben und mache es mir bequem, mich auf die Videos konzentrierend. Aber ich bemerke trotzdem, dass Daniel den Raum direkt hinter Ellen verlässt. Sind die beiden irgendwie verabredet?
„Wo ist Ellen hin?“, fragt Erik plötzlich neben mir.
Ich bin verwirrt. Sie ist doch gerade erst aus dem Raum verschwunden und schon fragt er nach ihr.
„Toilette“, brumme ich und sehe mir weiter das nächste Video an. Dabei versuche ich ihn zu ignorieren.
„Magst du?“ Erik setzt sich auf die Sessellehne und reicht mir eins der bunten Getränke.
Ich sehe aus dem Augenwinkel den Riss in seiner Jeanshose, der über seinen Oberschenkel verläuft und darunter kräftige Muskelpartien erahnen lässt. Kann er sich keine heilen Jeans leisten?
„Was ist das?“ Ich sehe auf das Glas und habe das Gefühl, bei ihm vorsichtig sein zu müssen.
Ich höre ihn leise lachen, sehe ihn aber nicht an, als er antwortet: „Muntermacher. Schmeckt gut. Probiere mal!“
Ich nehme das Glas entgegen und probiere das etwas dickflüssige Getränk. Es ist teuflisch süß.
„Danke!“ Ich hoffe, er geht jetzt wieder. Aber stattdessen nimmt er sich eine Zigarette aus seiner Schachtel und bietet mir auch eine an. Ich nehme sie, ohne ihn anzusehen und er gibt mir Feuer. Langsam wird mir klar, dass ich nach Marcel und Tim überhaupt nicht scharf darauf bin mit einem Mann irgendwelche Konversation zu betreiben. Aber Erik geht nicht. Er stößt sein Glas an meins und raunt: „Prost!“
Ich nicke nur und nehme noch einen Schluck. Dabei lasse ich meinen Blick durch den Raum zur Tür wandern. Wo bleibt Ellen nur?
„Wo kommst du eigentlich her? Ich habe dich noch nie vorher hier irgendwo gesehen“, fragt er und schaut auf mich herunter. Ich spüre seinen Blick wie ein Brenneisen auf mir. Unangenehm.
„Ich komme auch nicht aus Osnabrück. Ich wohne außerhalb“, gebe ich eine vage Angabe und sehe an ihm vorbei.
Sein Blick fixiert mich immer noch und eine Locke fällt in sein Gesicht. Ich sehe das aus dem Augenwinkel und wage nicht, ihn direkt anzusehen.
„So, von außerhalb! Und gibt es da außerhalb so etwas wie einen Freund?“, fragt er und betont unwirsch das Wort „außerhalb“.
„Nicht mehr“, antworte ich ehrlich und wünsche mich in diesem Moment an Marcels Seite, wo ich doch immer behütet unterkriechen konnte. Die Anwesenheit und der Blick von diesem aufdringlichen Typ beunruhigen mich allmählich immer mehr.
„Gut!“, raunt er und lässt sich, bevor ich Einwände erheben kann, zu mir in den Sessel rutschen.
Ich will aufstehen und ihm den Platz überlassen, aber er legt den Arm um mich und hält mich fest. „Wo willst du hin?“, fragt er, als könne er sich gar nicht vorstellen, warum ich jetzt aufstehen will.
„Ich muss mal gucken, wo Ellen steckt“, brumme ich und fühle mich schrecklich unbehaglich.
In dem Moment kommt sie auf uns zugestürmt und reißt ihren Bruder aus dem Sessel. „Das ist mein Platz! Verschwinde!“, faucht sie ihn böse an. Sie nimmt mein Glas und riecht daran und dann an meiner Zigarette.
Das ist mir dann doch etwas peinlich. Er ist doch ihr Bruder!
„Mann Ellen, was soll das?“, schnauzt Erik sie auch schon aufgebracht an und schiebt seine Locken hinter das Ohr. Eine kürzere Strähne fällt ihm in einem welligen Kringel wieder ins Gesicht.
„Sie hat verdammt schlechte Erfahrungen mit Brüdern gemacht … wie ich auch“, faucht sie und funkelt ihn wütend an.
Eriks Blick wird noch eine Nuance dunkler, aber er dreht sich auf der Stelle um und geht.
Mich angrinsend, fragt Ellen: „Alles klar?“
Kleinlaut