Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
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„Komm, ich möchte tanzen“, höre ich Erik sagen.
„Oh ne! Nicht tanzen!“, erwidere ich erschrocken, was aber offensichtlich von der lauten Musik verschluckt wird, weil Erik nicht darauf reagiert. Er zieht mich einfach in seine Arme.
Erik ist ein guter Tänzer, was ich schon am letzten Samstag auf unerfreuliche Weise feststellen musste. Trotz seiner bulligen Gestalt war er sehr vorsichtig mit mir umgegangen, als wäre ich aus Porzellan und hatte mich kaum berührt. Da war sogar Tim, der körperlich fast nur die Hälfte von Erik ist, wesentlich ruppiger mit mir umgegangen.
Aber ich hatte Schwierigkeiten, die Nähe eines männlichen Wesens zu ertragen – und habe es noch. Zu sehr hatte ich in den letzten zwei Wochen unter ihnen gelitten. Und Marcel fehlt mir schrecklich. Das wird mir in diesem Augenblick auf beängstigende Weise klar und dieses Gefühl gewinnt erschreckend an Intensität.
Erik zieht mich etwas mehr an sich, sich wohl daran erinnernd, wie ich beim letzten Mal vor ihm geflohen war. Da hatte er nicht damit gerechnet, dass ich mich aus seinem Griff winden werde. Diesmal scheint er schlauer zu sein – oder ehrgeiziger.
Ich sehe immer wieder zur Tür, ob Ellen nicht bald aufkreuzt, um mich zu retten. Dabei geht es nicht nur um ihren Bruder, der mich im Arm hält, sondern auch um die aufkeimenden Gedanken an Marcel, die meinen Kopf matern. Ob er heute bei der Scheunenfete ist und dort seinen Spaß hat? Zumindest lässt mich der Gedanke daran und an das, was auf der letzten Scheunenfete passiert war, erschauern.
Mittlerweile bereue ich, dass ich ihm das mit Tim gesagt habe. Ich hatte meine letzte Chance auf ein bisschen Glück damit zerstört.
Ich schlucke und spüre die Traurigkeit darüber in mir hochkriechen.
„Alles klar?“, fragt Erik und sieht mir in die Augen, sich etwas zu mir herunterbeugend.
„Ja sicher!“, seufze ich und verdränge den Gedanken an Marcel. Sogar Tim fehlt mir in diesem Moment. Ich möchte nicht hier sein und in den Armen dieses blondgelockten Bären liegen … und ich will nicht mehr tanzen. Mich haben meine Erinnerungen plötzlich so fest im Griff, dass ich heulen könnte.
„Können wir bitte aufhören?“, frage ich und klinge jämmerlich.
„Wenn du mich so lieb bittest.“ Erik sieht grinsend über mich hinweg. In dem Moment erhasche ich einen Blick auf Daniel, der an der Tür steht und zu uns herüberstarrt.
Ich sehe mich nach Ellen um.
Erik nickt Daniel zu und der nickt zurück. Daniels Blick wirkt mürrisch und mir fällt wieder ein, dass er mich eigentlich nicht mag.
Wo Ellen wohl ist? Ich sehe sie nirgends.
Erik lässt mich los und ich eile an Daniel vorbei rüber in ihre Wohnung. Ich sehe das als meine Chance an, mich aus Eriks Fürsorge zu stehlen, die ich sowieso nicht verstehen kann.
Ellen ist nicht in ihrem Zimmer und auch nicht in ihrem Badezimmer. Ich suche sie woanders, finde sie aber nirgends. Mir wird mulmig. Unten in der Küche ist sie zwischen den vielen Gestalten, die sich mittlerweile eingefunden haben, auch nicht auszumachen.
Der Langhaarige nimmt erneut ein Blech Kekse aus dem Ofen.
Plötzlich steht Erik wieder hinter mir. „Suchst du mich?“, fragt er ironisch.
„Nein Ellen. Ich dachte, sie ist auch wieder da. Ich habe Daniel gesehen“, antworte ich leise und verunsichert.
„Die kommt gleich nach. Sie hat Schwierigkeiten mit einer Freundin, der es nicht so gut geht. Sie muss aber auch gleich da sein“, erklärt Erik und scheint mich beruhigen zu wollen. Er sieht auf die Uhr und schenkt mir tatsächlich ein beruhigendes Lächeln. „Tanzen?“, fragt er und legt den Kopf etwas schief, um mir ins Gesicht sehen zu können.
Ich schüttele den Kopf und lächele zaghaft zurück. Auf seine Art ist Erik eigentlich doch irgendwie nett.
„Nein!“, erwidere ich aber trotzdem, um meinen Unwillen dennoch zu verdeutlichen. Mir ist irgendwie nicht gut. Vielleicht hätte ich die Kekse nicht so in mich hineinstopfen sollen. Offenbar vertragen sie sich auch nicht mit der Cola. Mein eh schon labiler Magen dankt mir das nicht gerade. „Ich gehe lieber wieder in Ellens Zimmer und warte da auf sie.“
Ich lasse Erik stehen und gehe die Treppe hoch. Als ich gerade auf Ellens Seite der Etage abbiegen will, wird nach meiner Hand gegriffen und ich zurückgehalten.
„Ach, Blödsinn! Da bist du doch ganz allein. Hier ist die Party!“, sagt Erik mit seiner dunklen Stimme und zieht mich gnadenlos zu seinem Wohnzimmer.
Ich bin etwas wie ferngesteuert und kann ihn nur gewähren lassen. Vielleicht kann ich im Sessel ein wenig die Videos ansehen? Die Welt um mich herum beginnt langsamer zu laufen oder ich werde immer langsamer. Mein Kopf scheint weiter in einem Nebel zu versinken, der mich seltsam willenlos macht.
Erik lässt mich los und spricht mit einer jungen Frau, die ihn regelrecht anhimmelt und ihre langen, rotlackierten Fingernägel nach ihm ausstreckt.
Ich steuere auf den Sessel zu und schaue auf den großen Bildschirm, an dem gerade ein Lied anläuft, das mich magisch in seinen Bann zieht. Auf dem Bildschirm erscheint in dunklen Farben eine Welt, die auf einen weißen Kokon zusteuert. Ein Schmetterling schlüpft aus ihm hervor, spreizt seine Flügel und startet in ein neues Leben. Doch er findet sich in der Welt nicht zurecht und er lässt sich von einer vorbeifliegenden Schar Faltern mitreißen. Mit ihnen mitfliegend, landet er letztendlich in einem Spinnennetz. Das Lied dazu lässt mich wie gebannt den Bildschirm anstarren. Es versetzt etwas in mir in seltsame Schwingungen.
Erik taucht neben mir auf. Ich spüre seine Hand in meinem Rücken, bin aber im Moment gar nicht in der Lage, mich daran zu stören. „Wer ist das?“, frage ich nur.
„Blueneck Lilitu“, raunt Erik neben mir völlig fasziniert.
Mag er das Lied und das Video auch?
Als ich ihm einen schnellen, fragenden Blick zuwerfe, sieht er mich an, statt die Mattscheibe.
Als das Lied zu Ende ist, folgt ein deutsches Lied von Style Aroma und Besk mit dem Text „Ich bin nicht glücklich“. Und wieder mit viel Klavier.
Ich komme aus meinem Gefühlschaos, dass das erste Lied in mir verursacht hat, kaum wieder heraus und sehe mich um, ob ich mich irgendwo hinsetzen kann.
Der Sessel ist mit einem knutschenden Pärchen belegt und das Sofa mit drei Typen, die sich das scheinbar ansehen.
„Komm!“ Erik packt mich und reißt mich aus meiner Verwirrung, die mich immer noch wegen dem Lied umfängt, hebt mich wie eine Puppe hoch und setzt mich auf seine Anrichte.
Ich bin völlig irritiert, dass er das tut und auch noch schafft. Es ist ziemlich hoch.
Er stellt sich direkt vor mich und greift nach einer Fernbedienung, die in einer Schale neben mir liegt, dreht sich um und drückt ein paar Knöpfe.
Brutal wird das Lied von Style Aroma abgewürgt und Blueneck Lilitu läuft wieder an und schlägt