Volkswagen – Auf dem Weg zur Weltspitze. Frank O. Hrachowy
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Zur zeitgenössischen Situation in Wolfsburg erklärte Kurt Lotz: »Schon bei meiner Einarbeitung im Sommer 1967 hatte ich nach Unterlagen gefragt, aus denen hervorgehen könnte, welche Neuentwicklungen in der Schublade waren. [...] Zu meiner großen Überraschung waren die Schubladen leer. Und: neue technische Konzeptionen standen überhaupt nicht zur Diskussion. Alle Zukunftserwartungen waren auf den Erfahrungswerten des Käfers aufgebaut [...] .«7
Demgemäß rationalisierte Lotz die Fertigungsabläufe und gestand der Forschungs- und Entwicklungsabteilung mehr Geld zu. Hinzu kam eine systematische Entwicklung von Führungskräften innerhalb des VW-Konzerns. Gleichzeitig wurden die Produktions- und Verwaltungsprozesse auf die elektronische Datenverarbeitung (EDV) umgestellt. Die Maßnahmen im Bereich EDV zusammenfassend schreibt der VW-Konzern: »Auch in Forschung und Entwicklung liefert die elektronische Datenverarbeitung neue Impulse, wie der Einsatz einer automatischen Modellabtastanlage in der Karosseriekonstruktion demonstriert. In Verbindung mit Großrechnern und automatischen Zeichenmaschinen verkürzt diese Anlage die Entwicklungszeit der Karosserien erheblich.«8
Trotz aller Modernisierung stand jedoch vorerst keine Ablösung für den VW Käfer in Aussicht, vielmehr wurde er 1970 umfassend modernisiert, und zwar technisch wie optisch. Unter der Bezeichnung 1302 Limousine (Typ 11) wurde dem Typ 1 eine modernere Version zur Seite gestellt. Im Typ 11 arbeitete vorne nicht mehr die alte Doppellängslenker-Achse, sondern es wurden zeitgemäße MacPherson-Federbeine mit Querlenkern und einem Stabilisator verbaut. Hinten kam eine Schräglenker-Achse zum Einsatz.
In Verbindung mit dem um 20 mm verlängerten Radstand verbesserte sich die Straßenlage des VW Käfer augenblicklich, gerade das tückische Übersteuern reduzierte sich stark. Durch die Verlängerung des Vorderwagens um 70 mm stieg obendrein die passive Sicherheit. Das Reserverad lag nun unter der vorderen Haube, statt dort platzraubend aufrecht zu stehen. Durch diese Maßnahmen besaß der VW Käfer zum ersten Mal einen ernstzunehmenden Kofferraum.
Auch bei der Motorisierung gab sich das neue Modell moderner, wenn auch am grundsätzlichen Motorkonzept festgehalten wurde. Der luftgekühlte Boxermotor des 1302 schöpfte aus 1,3 Liter Hubraum 44 PS (32 kW), daneben wurde der stärkere 1302 S mit 1,6 Liter Hubraum und einer Leistung von 50 PS (37 kW) ins Verkaufsprogramm genommen. Durch ein Doppelkanal-Ansaugsystem verbesserte sich die Durchzugskraft der Motoren. Um die bekannten Kühlprobleme des dritten Zylinders zu lösen, wurde der Ölkühler umgesetzt. Hinzu kamen zwei Reihen Kühlluftschlitze in der Motorhaube. Als technisches Schmankerl bekam der 1302 S sogar Scheibenbremsen an der Vorderachse verbaut.
Im Zuge des offensichtlichen Misserfolgs des VW 411 wurden die Rufe der VW-Händler nach einem wettbewerbsfähigen Modell immer lauter. Diese Forderung war weder abwegig noch unzeitgemäß – im Gegenteil, denn ein konkurrenzfähiges, modernes Modell war im VW-Konzern bereits verfügbar. So der K 70, der von NSU vor der Übernahme durch VW entwickelt worden war und von der VW-Konzernleitung zurückgehalten wurde, um das Geschäft mit den eigenen Fahrzeugen nicht zu stören. Entwickelt hatten die NSU-Ingenieure den K 70 mit einem Front-Reihenmotor, Vorderradantrieb und Wasserkühlung, so dass der Wagen hinsichtlich seiner Platzverhältnisse und seiner Straßenlage die konzeptionell antiquierten Mittelklasse-Modelle aus Wolfsburg ohne Mühe in den Schatten stellte.
Wie umstritten das technisch altbackene VW-Modell 411 innerhalb der Branche und unter Autofahrern war, wurde durch die spöttische Definition des Modellnamens deutlich. VW 411 wurde übersetzt als: VW mit 4 Türen, aber 11 Jahre zu spät. Auch optisch konnte der Mittelklasse-VW nicht begeistern, denn durch seine konservative Bauweise mit Heckmotor musste der Vorderwagen sehr lang ausfallen, um zu einer passablen Kofferraumgröße zu gelangen. Der durch den langen Vorderbau optisch nicht harmonisch wirkende VW hatte dann auch gleich seinen Spitznamen weg: »Nasenbär«. Daran sollte auch das 1972 vorgenommene Facelift und die neue Bezeichnung VW 412 nichts ändern.
Aufgrund des anhaltenden Misserfolgs des VW 411 entschloss sich VW-Chef Kurt Lotz im Sommer 1970, den von NSU entwickelten Wagen unter dem Modellnamen VW K 70 (Typ 48) auf den Markt zu bringen. Dafür wurde in Salzgitter ein eigenes Werk gebaut. Verfügbar war der K 70 mit wassergekühlten 1,6-Liter-Reihenmotoren, die über eine Leistung von wahlweise 75 PS (55 kW) oder 90 PS (66 kW) verfügten. Die bereits entwickelte Kombiversion des K 70 wurde jedoch nicht auf den Markt gebracht. Der VW K 70 wurde trotz mäßiger Verkaufszahlen zu einem Meilenstein in der Geschichte des Wolfsburger Konzerns, denn er markierte die Hinwendung zu moderner Fahrzeugtechnik bei Volkswagen.
Zur Rolle des K 70 für den VW-Konzern in diesen geschäftlich schwierigen Jahren erklärte der Vorstandsvorsitzende Kurt Lotz im Rückblick: »[...] die Einführung des K 70 von NSU erfolgte ausschließlich darum, weil wir schnell einen Mittelklassewagen mit wassergekühltem Motor haben wollten, um die Öffentlichkeit psychologisch an diese veränderte Technik bei VW zu gewöhnen. Aber: das durften wir damals nicht sagen.«9
VW am Abgrund
Mit gemischten Gefühlen blickte die VW-Führung nach Nordamerika. Dort war der Käfer mittlerweile so erfolgreich, dass die »Großen Drei« Hersteller Chrysler, Ford und GM reagierten. Diese Reaktion zeigte sich einerseits in neu entwickelten eigenen Kleinwagen wie dem Chevrolet Nova, dem Ford Maverick oder dem AMC Gremlin. Darüber hinaus zeigte sich die Reaktion in selbst für amerikanische Verhältnisse ungewohnt aggressiver Werbung, die den VW Käfer diskreditierte.
Unzweifelhaft genossen der VW Käfer und der Transporter »Bulli« einen Kultstatus in den USA, sie wurden von vielen Besitzern als direkter Gegenentwurf zum rücksichtslosen amerikanischen »Bigger is better« gesehen, bei dem nur der Fortschritt zählte. Besonders in der Hippie-Szene stießen die Fahrzeuge aus Wolfsburg auf große Sympathie. Und Fakt war: Jeder siebzehnte in den USA zugelassene Wagen des Jahres 1968 stammte von VW. Doch der Schein trog, zumindest was die Gesamtzahlen anging.
In Brasilien beispielsweise, einem Land, in dem VW traditionsgemäß sehr stark vertreten war, stand der VW Käfer plötzlich auf Halde. Der Grund war, dass modernere Wettbewerbsmodelle aus Nordamerika auf den Plan getreten waren und den VW Käfer bedrängten. Hinzu kam die Aufwertung der Deutschen Mark, die den Export von Fahrzeugen ins Ausland erschwerte, weil sie damit teurer wurden. Gerade für den Export in die USA hatte das starke wirtschaftliche Folgen. Gleichzeitig machte die Stärke der Deutschen Mark Importfahrzeuge kostengünstiger. Damit kämpften die deutschen Automobilhersteller gleichzeitig an zwei Fronten.
Bei Volkswagen ging es merklich bergab, denn der VW Käfer verkaufte sich zunehmend schlechter: Waren die Jahre 1968 und 1969, in denen jeweils ein Ertrag von über 330 Millionen Mark (ca. 165 Millionen Euro) erwirtschaftet worden war, noch gute Jahre gewesen, brachte das Jahr 1970 bereits einen starken Gewinneinbruch mit sich. Hinzu kam der Kauf der Autovermietungskette »Selbstfahrer Union«10, der den Konzern belastete. Zwar war VW noch nicht in die roten Zahlen gerutscht, doch standen nur noch 190 Millionen Mark (ca. 95 Millionen Euro) Gewinn in den Büchern.
Dabei zeigte der Ertragstrend so deutlich nach unten, dass 1971 ein finanzielles Fiasko gerade noch abgewendet werden konnte. Für das Jahr 1972 wurden tiefrote Zahlen erwartet. Selbst in den USA begann der Stern des VW »Beetle« zu sinken – nicht zuletzt, weil nun auch japanische Hersteller mit modernen Kleinwagen in den Markt drängten. Die existenzbedrohende Situation spiegelte sich im Wert der VW-Aktie wider, die an der Börse immer weiter sank. Die Zukunft sah für den VW-Konzern düster aus – es wurde immer deutlicher, dass Volkswagen in großen Schwierigkeiten steckte. Für den Vorstandsvorsitzenden Kurt Lotz war offensichtlich, dass die Konzentration auf den Käfer mittlerweile zu einem Risiko für den Konzern geworden war.
Zu den Gründen, warum VW in dieser Situation keinen Kleinwagen unterhalb des Typ 1 auf den Markt brachte, schrieb Kurt Lotz in seiner Autobiographie: »Es wäre ein Fehler gewesen, in den kleinen und stagnierenden Markt eindringen zu wollen.