Zwillingsschmerz. Ana Dee
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„Ich war nur für einen winzigen Moment unaufmerksam und plötzlich war Marie wie vom Erdboden verschluckt. Mia meinte, sie wäre zu dem Stand mit den Luftballons gelaufen.“ Marlene konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
„So, mein Freundchen“, Frank warf die Bratwurst in einen Papierkorb und umklammerte den Unterarm des Mannes mit einem festen Griff. „Jetzt erzählst du mir bitte haargenau, wo ich meine Tochter finden kann.“
Die Antwort fiel anders aus, als erwartet, denn nur einen Atemzug später taumelte Frank zurück. Die Faust des Mannes hatte sein Kinn getroffen.
„Jetzt reicht es!“
Frank war außer sich und stürzte sich auf ihn. In wildem Gerangel wälzten sich die Männer auf dem Boden und wirbelten jede Menge Staub auf.
„Schluss jetzt!“ Ein Ordnungshüter mischte sich ein und zerrte die Männer auseinander. „Worum geht es eigentlich?“
Frank klopfte seine Hose sauber. „Unsere Tochter ist verschwunden, genau an dieser Stelle.“
„Stimmt das?“
Der stämmige Mann von der Security drehte sich zu dem Mann im Clownkostüm, doch der zuckte nur mit seinen Schultern.
„Hier kommen am Tag zig Leute vorbei, da kann ich nicht auf jeden einzelnen Besucher achten.“
„Bitte, was wird denn nun?“
Marlene hatte das Gefühl, allmählich durchzudrehen. Das Blut rauschte in den Ohren und ihr Puls raste.
„Wie konnte das überhaupt passieren?“, stellte der Securitymitarbeiter die Gegenfrage.
„Ich weiß es nicht ... plötzlich war meine Tochter verschwunden, einfach so.“ Marlene war erneut den Tränen nahe. Ihr schlimmster Albtraum schien sich zu verselbstständigen.
„Wie sieht das Mädchen aus?“
„Genauso wie unsere zweite Tochter, sie sind Zwillinge.“
Der stämmige Typ hielt sich das Funkgerät an die Lippen und forderte seine Mannschaft sofort dazu auf, das gesamte Gelände nach Marie zu durchkämmen.
„Wenn Ihre Tochter nicht auftaucht, müssen Sie die Polizei verständigen.“
Marlenes Herzschlag setzte für eine Schrecksekunde aus. Sie hatte von Anfang an gespürt, dass irgendetwas nicht stimmte. Sicher, die Mädchen waren oft quirlig und hatten ihren eigenen Kopf, aber noch nie war eine von ihnen fortgelaufen. Mia und Marie waren eineiige Zwillinge und hingen meist wie Kletten aneinander.
Frank fand als Erster die Sprache wieder. „Wir sollten Marie suchen und nicht länger unsere Zeit vertrödeln.“
Er nahm Mia auf den Arm und eilte voraus, während Marlene ihm wie in Trance folgte. Sie liefen den Weg, den sie bisher genommen hatten, mehrmals auf und ab, bevor sie sich hinter den Ständen umschauten.
Nach einer Stunde schweißtreibender Suche gaben sie auf und informierten die Polizei. Marlene zitterte und schlang fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper, als sie am Straßenrand auf die Beamten warteten.
Irgendjemandem hätte das kleine Mädchen doch auffallen müssen, aber es gab nicht die geringste Spur. Marlene konnte förmlich spüren, wie Marie um Hilfe schrie, sich nach ihrer Mutter und ihrer Schwester sehnte. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein netter älterer Herr, der Marie ein Kätzchen versprach, wenn sie ihm folgte. Schluchzend warf sie sich in Franks Arme.
„Schhhh ... alles wird gut mein Schatz. Die Jungs in Uniform werden sie finden“, versuchte er sie zu beruhigen.
Mit verquollenen Augen schaute sie zu ihm auf. „Das glaubst du doch selbst nicht. Ich habe kein gutes Gefühl, Marie ist etwas Schreckliches zugestoßen.“
Sie löste sich beinahe trotzig aus seiner Umarmung und atmete auf, als zwei Streifenwagen neben ihnen hielten. Die Befragung ging rasch vonstatten und am Ende schoss einer der Beamten noch ein Foto von Mia.
„Wir durchsuchen jetzt das gesamte Areal. Es wäre das Beste, wenn Sie nach Hause fahren und abwarten, schon ihrer kleinen Tochter zuliebe.“ Er nickte in Mias Richtung, die sich verstört an Frank klammerte.
„Ich kann hier nicht weg“, flüsterte Marlene mit tonloser Stimme. „Marie braucht mich, dass kann ich deutlich spüren.“
„Bitte Marlene, wir machen uns doch nur verrückt. Die Männer werden schließlich wissen, was zu tun ist. Stell dir vor, sie finden Marie und wir sind nicht zu Hause?“
„Du machst es dir wie immer leicht.“ Ihre Stimme klang schrill und vorwurfsvoll.
„Das ist nicht wahr und das weißt du auch“, erwiderte Frank entrüstet. „Oder kannst du mir sagen, wie lange Mia noch durchhält?“
Marlene gab sich geschlagen. Widerwillig trottete sie ihm zum Wagen hinterher, ständig nach Marie Ausschau haltend, ob sie das Mädchen nicht doch noch irgendwo entdeckte. Frank hielt ihr die Autotür auf und sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Noch immer zitterte sie unkontrolliert, als sie sich anschnallte und die eingegangenen Nachrichten auf ihrem Smartphone kontrollierte.
Frank steuerte den Wagen schweigsam zurück. Er wusste genau, dass jedes tröstende Wort an Marlene abprallen würde. So aufgelöst hatte er sie noch nie erlebt. Aber auch er musste sich ehrlicherweise eingestehen, dass er die Wahrheit ebenso wenig akzeptieren wollte.
Nachdem sie das schmucke Einfamilienhaus erreicht hatten, ließ er den Wagen achtlos in der Einfahrt stehen und begleitete Marlene und Mia ins Haus.
„Was hältst du davon, wenn ich uns einen Kaffee aufsetze?“ Frank schaute sie fragend an.
„Gute Idee“, antwortete Marlene abwesend.
Sie griff nach Mias Hand und lief die Stufen hinauf ins Kinderzimmer. Ungestüm drückte sie die Klinke herunter und ein traumhaftes Märchenland aus Rosa öffnete sich ihr. Doch in ihrem jetzigen Zustand hatte Marlene keinen Blick dafür.
Sie zerrte das geblümte Kleid über Mias goldgelocktes Köpfchen und schleuderte es in eine Ecke. Es war für sie unerträglich, diesen Anblick weiterhin vor Augen zu haben. Stattdessen zog sie Mia ein leichtes Shirt und eine kurze Hose über und lief mit ihr wieder nach unten.
„Darf ich ein Eis haben?“, fragte Mia und schaute sie mit ihren großen blauen Augen bittend an.
Marlene war in dieser Beziehung recht streng und achtete sehr auf eine gesunde Ernährung, doch heute drückte sie Mia wortlos das Eis in die Hand. Dann setzte sie sich zu Frank an den Küchentisch und nippte am Kaffee.
„Wie wird es jetzt weitergehen?“, murmelte sie verzweifelt.
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, gestand ihr Frank mit trauriger Miene.
Inzwischen hatte eine großangelegte Suche stattgefunden, doch Marie blieb weiterhin verschwunden und die Fahndung