Zwillingsschmerz. Ana Dee
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Читать онлайн книгу Zwillingsschmerz - Ana Dee страница 6
„So etwas darfst du niemals denken. Außerdem, was wird dann aus mir?“
„Aber ich kann nicht einfach so weitermachen. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich Mädchen oder Jungen das Leben geschenkt habe. Ich vermisse die beiden so sehr.“
„Du durftest keinen Blick auf deine Kinder werfen?“, fragte Lene schockiert.
„Nein, sie haben gesagt, dass würde mich nur verwirren. Hast du eigentlich einen besonderen Trick, weil du bis jetzt noch nicht schwanger geworden bist?“ Lisa schaute sie aufmerksam an.
„Ich weigere mich einfach, will es nicht akzeptieren. Große Sorgen bereiten mir nur die Hormone, die sie in mich hineinpumpen. Ich habe Angst, dass sich mein Körper irgendwann seinem Schicksal beugt.“
„Wie erwachsen du klingst. Weißt du eigentlich, was mit uns passiert, wenn wir keine Kinder mehr bekommen können? Hier müsste es doch nur so von älteren Frauen wimmeln?“
„Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Vielleicht kommen sie dann auf eine andere Station?“ Ratlos zuckte Lene mit den Schultern.
„Manchmal habe ich so meine Zweifel an der Geschichte mit den Auserwählten, dass wir hier in Saus und Braus leben können, während da draußen die Welt zugrunde geht. Wir müssen immer nur das essen, was sie uns vorsetzen, lernen rund um die Uhr und wenn ich an die strengen Regeln denke ...“ Lisa stieß frustriert die Luft aus. „Wir sind für den Fortbestand der Menschheit vorbestimmt, was für eine alberne Floskel. Die Natur hat uns mit zwei Milchpacks ausgestattet, damit wir unsere Kinder eigenständig aufziehen.“
Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und Lene nahm sie tröstend in den Arm.
„Ich will meine Kinder zurück“, schluchzte Lisa leise.
Lene strich ihr sanft übers Haar. „Ich würde dich so gern von deiner Last befreien, aber ich fürchte, wir sind ihnen hilflos ausgeliefert.“
Lisa hob ihren Kopf und blickte Lene fest in die Augen. „Wenn ich wieder schwanger bin, nehme ich mir das Leben. Ich kann das einfach nicht, für niemanden auf der Welt. Es zerreißt mir das Herz, es macht mich kaputt.“
„Bitte Lisa, tu das nicht“, stammelte Lene verzweifelt.
„Sie halten uns wie Tiere. Statt Tageslicht gibt es UV-Lampen und ich frage mich, ob wir jemals die Sonne zu sehen bekommen?“
„Vielleicht können wir fliehen, zusammen, ohne den anderen zurückzulassen?“ Ein Funken Hoffnung lag in ihrer Stimme.
„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Lisa rückte ein wenig von ihr ab. „Lucy hat erzählt, dass sie überall Kameras haben und jeden unserer Schritte überwachen. Sie ist sich sogar sicher, dass die uns abhören.“
„Wirklich?“ Lene ließ resigniert die Schultern hängen.
„Noch bevor wir das Wort Flucht überhaupt ausgesprochen hätten, würden die etwas unternehmen. Sie sagen uns immer wieder, wie kostbar unsere Gene sind und dass sie uns deshalb so hüten. Aber ich habe mich nicht nur einmal gefragt, was aus den Mädchen geworden ist, die bei den Prüfungen versagt haben und aussortiert wurden. Von heut auf morgen waren sie verschwunden.“
Lisa redete sich in Rage.
„Wir tragen alle Vornamen mit dem gleichen Anfangsbuchstaben. Wo sind unsere Eltern abgeblieben? Wurden wir genauso künstlich gezeugt und gleich nach der Geburt unseren Müttern entrissen? Es wäre doch für alle Beteiligten das Beste, wenn wir unser Muttersein auch ausleben dürften. Also wenn du mich fragst, hier ist irgendetwas faul.“
„Dann müssen wir etwas dagegen unternehmen, gemeinsam schaffen wir das“, antwortete Lene mit Nachdruck.
„Wir wissen doch gar nicht, wie es hinter den Stahltüren aussieht.“
„Oh doch, ich weiß es“, beharrte Lene. „Fast jede Nacht träume ich davon. Ich sehe den Himmel, der sich in einem kräftigen Hellblau über uns wölbt und fühle die Sonne, die mir warm ins Gesicht scheint. In mir sind Erinnerungen wie aus einer anderen Zeit.“
„Das hast du bestimmt nur aus deinen Büchern. Mir fehlen diese Träume, ich lebe immerzu im Hier und Jetzt.“ Lisa bereitete es sichtlich Mühe, ihre Tränen erneut zurückzuhalten.
„Wenn wir doch nur einen Blick in die Akten im Büro werfen könnten. Manchmal träume ich sogar von meinen Eltern. Wir wohnen in einem großen Haus mit einem großen Garten, in dem viele bunte Blumen blühen. Dort steht auch so ein Ding, wo man schaukeln kann. Meine Mutter hat langes braunes Haar und mein Vater trägt immer einen Anzug.“
„Ich wünschte, ich könnte auch in so eine Fantasiewelt abtauchen“, seufzte Lisa.
„Ich glaube nicht, dass diese Welt nur in meinem Kopf existiert. Die Stimme meiner Mutter klingt so liebevoll und unheimlich vertraut.“
„Ach Lenchen, wer weiß schon, was sich in unseren Gehirnwindungen so abspielt, damit wir das Leben hier irgendwie erträglicher finden.“
Ein leises Summen ertönte.
„Tja und schon ist der Tag wieder vorüber, wir sehen uns beim Frühstück. Schlaf gut.“ Lisa winkte ihr noch einmal zu und verschwand zur Tür hinaus.
Dann war Lene wieder allein. Sie streckte sich auf ihrem Bett aus und schloss die Augen. Nacht für Nacht tauchte sie in die Welt ihrer Träume, um für wenige Augenblicke die Wärme und Geborgenheit zu spüren, die von ihnen ausging.
Sie fühlte sich eingesperrt und wusste nicht, wie sie dem entkommen konnte. Es musste noch etwas anderes existieren, da war sie sich sicher. Dieses Gefasel, dass sie zur Elite gehörten, dass sie auserwählt worden waren, das hörte sich so verlogen an.
Der Unterrichtsstoff hatte es in sich, gar keine Frage, und Lene war eine der Besten. Aber wozu wurden sie auf so ungewöhnliche Weise gedrillt, wenn sie anschließend doch nur als Gebärmaschinen dienen sollten? Das passte vorn und hinten nicht zusammen.
Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich auf die andere Seite. Wie lange würde sie dieses Leben noch ertragen können? Und wäre der von Lisa anvisierte Freitod tatsächlich eine Option?
Lene stellte sich mit ihrem Tablett geduldig in die Schlange der Wartenden. Heute würde es zum Frühstück wieder Müsli, Obst und eine Scheibe Vollkornbrot geben. Nur das Beste für die Gäste, dachte sie frustriert, als sie an der Reihe war.
Lisa war noch nicht da, was sie erstaunt zur Kenntnis nahm. Dabei war ihre Freundin immer die Erste, wenn es ums Essen ging. Kaum hatte sie an ihrem Tisch Platz genommen, tauchte Frau Weber auf.
„Lene, du kommst bitte gleich nach dem Frühstück ins Labor zur Blutabnahme.“
„In Ordnung“, murmelte Lene zustimmend.
Sie konnte diese Frau auf den Tod nicht ausstehen. Selten hatte sie jemanden erlebt, der ihr auf Anhieb so unsympathisch gewesen war. Grell geschminkte Lippen und eine arrogante Körperhaltung waren die Markenzeichen