Zwillingsschmerz. Ana Dee
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Mit klopfendem Herzen betrat sie die kleine Boutique und sah sich suchend um, bevor sie eine Angestellte um Hilfe bat.
„Haben Sie die junge Frau gesehen, die soeben Ihr Geschäft betreten hat?“, fragte sie noch immer außer Atem.
Mit einem freundlichen Nicken deutete die stark geschminkte Frau in Richtung der oberen Etage.
„Dankeschön“, murmelte Marlene und eilte die Treppe hinauf. Sie zwängte sich durch die engen Räumlichkeiten, den Blick fest auf den wippenden Lockenkopf gerichtet.
Ohne lange darüber nachzudenken, riss sie die Schulter der jungen Frau herum. „Marie?“
„Mama, was machst du denn hier?“, rief Mia erstaunt, während ihre zwei besten Freundinnen unauffällig das Weite suchten.
„Das Gleiche könnte ich dich auch fragen. Schwänzt du etwa die Schule?“ Marlene musste sich erst einmal sammeln und atmete tief durch.
„Oma hat mir ein paar Euros zugesteckt und ich wollte die Freistunde nutzen, um das Geld in dieses schicke Shirt zu investieren. Und was hast du noch so vor?“
„Einkaufen“, erwiderte Marlene rasch. „Dann möchte ich euch nicht länger stören, habt noch viel Spaß.“
Sie hauchte Mia einen Abschiedskuss auf die Wange und machte auf dem Absatz kehrt. Mit Tränen in den Augen hetzte sie zum Parkhaus und fuhr zurück. Völlig aufgelöst schloss sie die Eingangstür auf und pfefferte die Einkaufstüten in eine Ecke. Dann warf sie sich auf die Couch und schluchzte hemmungslos.
Sie hatte Mia eindeutig diesen Tag verdorben, obwohl das überhaupt nicht ihre Absicht gewesen war. Doch Marlene konnte dieses Verhalten einfach nicht abstellen. Sobald sie unterwegs war, musterte sie aufmerksam die Umgebung immer in der Hoffnung, auf Marie zu treffen. Ganz tief in ihrem Herzen konnte sie fühlen, dass ihre so schmerzlich vermisste Tochter noch am Leben war.
Mia litt sehr darunter, ihre Mutter so verzweifelt zu sehen, und fühlte sich oft zurückgesetzt. Selbst eine Therapie hatte Marlene nicht helfen können und manchmal beneidete sie jene Eltern sogar darum, die ihr Kind begraben und damit abschließen durften. Sie hingegen hoffte und hoffte und hoffte ...
Sie war innerlich ein Wrack und einsamer denn je. Obwohl Anfang vierzig, war sie noch immer eine zierliche, attraktive Frau, die das eine oder andere Männerherz höher schlagen ließ. Doch sobald ihre seelischen Probleme deutlich sichtbar wurden und die Trauer ihre äußere Fassade durchbrach, ergriffen die meisten der Herren die Flucht. Keiner war Marlenes innerer Zerrissenheit auf Dauer gewachsen. Dabei fehlte ihr des Öfteren eine starke Schulter zum Anlehnen.
Mit einem zerknitterten Taschentuch tupfte sie sich die Tränen von der Wange und trottete ins Badezimmer, um mit kaltem Wasser ihr verquollenes Gesicht zu kühlen. Anschließend deckte sie die Geburtstagstafel und füllte die Salate in Großmutters teures Porzellan. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk und lief ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.
Eine kleine Traube schnatternder Teenager hatte sich im Wohnzimmer verbarrikadiert, während die Großeltern im Garten bei einer Tasse Kaffee zusammensaßen. Marlene hatte ordentlich zu tun, um alle Gäste zu bewirten und ihre beste Freundin Elena unterstützte sie dabei.
„Marlene, kann ich dich einen Moment sprechen?“ Frank steckte seinen Kopf zur Tür herein.
Mia musste ihm wohl von der Verwechslung erzählt haben. Betont langsam wischte sie ihre Hände am Handtuch ab. „Lass uns nach oben gehen“, forderte sie ihn auf und lief voraus. Im Arbeitszimmer ließ sie sich in den Sessel fallen. „Und, was gibt es so Dringendes, dass du mich ausgerechnet jetzt sprechen möchtest?“
Frank räusperte sich. „Du musst endlich loslassen, Marlene. Ich weiß wirklich nicht, wie oft ich dir diesen Ratschlag noch erteilen soll. Es macht dich kaputt, wenn du immer nur zurückschaust, wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern.“
„Aha, bist du jetzt ein ausgebildeter Psychologe?“, antwortete sie mit einem spöttischen Unterton.
„Nein, aber es hat Mia sehr verletzt, dass du sie für Marie gehalten hast. Sie lebt im Schatten ihrer Schwester, siehst du das denn nicht?“
„Weißt du, was mich wundert? Dass du Mia immer als Vorwand benutzt. Dabei warst du doch derjenige, der Marie ohne weiteres ausgetauscht hat“, rechtfertigte sie sich.
„Bitte nicht schon wieder diese alte Leier“, stöhnte er auf. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Deine Therapie hat nichts gefruchtet, du lebst immer noch allein ...“
„Das alles geht dich überhaupt nichts mehr an“, fauchte sie wütend. „Ich führe mein Leben so, wie ich es für richtig halte. Punkt.“
„Das wäre ja auch alles kein Problem, wenn du Mia damit nicht ständig belasten würdest“, konterte er.
„Sagt wer?“
„Vergiss es einfach.“ Frank winkte resigniert ab. „Ich bitte dich nur darum, Mia eine gute Mutter zu sein.“
„ ... sagte der Vater, der durch Abwesenheit glänzt“, vollendete sie den Satz. Seine Worte hatten sie zutiefst verletzt. „Ich bin eine gute Mutter und das weißt du auch“, empörte sie sich. „Wenn Mia krank war, habe ich an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten, während du mit Juliane gevögelt hast.“
So, jetzt war es raus. Sie stand auf und schritt hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei. Nein, so einfach war das nicht, auch wenn sie vielleicht ihr gesamtes Leben vergebens hoffen würde.
„Ich erkenne dich nicht wieder und ich verbiete dir, so über uns zu reden.“ Fassungslos schüttelte er seinen Kopf.
„Wie du das kleine Wörtchen uns betonst. Ich denke, damit hast du dich selbst ins Abseits manövriert.“
„Jedes Wort, das ich sage, legst du auf die Goldwaage.“ Seine Geduld schrumpfte merklich.
„Frank, die Geburt unserer Zwillinge war einst der schönste Tag in unserem Leben. Dass du ausgerechnet heute mit mir darüber streiten musst, spricht nicht unbedingt für dich.“ Sie ließ ihn einfach stehen und lief nach unten.
Kapitel 3
Lisa saß mit verquollenen Augen auf der Bettkante. „Warum sind die anderen nach der Geburt nur so emotionslos?“, fragte sie schluchzend.
„Ich kann es dir leider nicht sagen“, antwortete Lene. „Eigentlich bin ich auch ganz froh darüber, dass ich diese Erfahrung noch nicht machen musste“, gestand sie Lisa ehrlich.
„Aber du bekommst inzwischen Hormone gespritzt?“
Lene nickte. „Mir geht es gar nicht gut und ich fürchte mich vor der nächsten künstlichen Befruchtung.“
„Es ist zum Verzweifeln und noch einmal stehe ich das nicht durch. In meinen Träumen höre ich meine Kinder schreien und das treibt mich fast in den Wahnsinn. Vielleicht sollte ich noch