Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman). H. G. Wells

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Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman) - H. G. Wells

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als selbstverständlich und jede notwendige kleine Prüfung als Last.«

      Es verging geraume Zeit, bis er wieder zu sprechen begann. Da hatte er Edelsteine und Kristalle bereits vergessen. Er verfiel in ausgesprochen einseitige Betrachtungen. »Es gibt keine Bürde, die man nicht ertragen könnte. Manchmal ist es vielleicht schwer … Keine wirkliche Ungerechtigkeit.«

      Seine Stimme erstarb, etwas später hörte ich ihn jedoch wieder flüstern.

      Meine letzte Erinnerung an ihn ist, daß inmitten der Stille des von einer Lampe erleuchteten Zimmers plötzlich seine Stimme erklang und meinen Namen nannte. Er muß meiner gewahr geworden sein, während ich in der Tür stand. Die Fenster seines Schlafzimmers waren so weit wie möglich offen, trotzdem verlangte es ihn nach mehr Luft. »Frische Luft«, wiederholte er. »Viel frische Luft. Bring alle Menschen in die frische Luft hinaus; alles in die frische Luft. Dann wird alles gut sein.«

      »Laß die Fenster offen. Laß immer die Fenster offen. Ganz weit offen – ganz weit …«

      »Und fürchte dich vor nichts, denn Gott ist hinter allem, wie seltsam es auch sein mag.«

      »Hinter allem …«

      Sein Ausdruck wurde gespannt. Gleich darauf sanken seine Augenlider herab, und er beachtete mich nicht mehr. Sein Atem wurde schwer, wurde langsamer, trocken und rasselnd.

      Sehr lange war dieses geräuschvolle Atmen zu hören. Nie werde ich es vergessen. Es setzte aus, hob wieder an, und hörte dann auf. Der gespannte Gesichtsausdruck verschwand. Die Augen öffneten sich langsam und betrachteten die Welt ruhig, aber sehr starr.

      Ich wartete, den Blick starr auf ihn gerichtet, daß er spreche, aber er sprach nicht. Scheu befiel mich.

      »Onkel!« flüsterte ich.

      Die Pflegerin zupfte mich am Ärmel.

      Als ich am Morgen zu ihm gerufen wurde, war sein Antlitz schon eine heitere Maske, deren Augen für immer vor der Welt verschlossen blieben; gütig noch, aber nunmehr mit unaussprechlichen Dingen befaßt. Das Marmorbildnis im Mittelschiff der Kirche zu Salisbury ist das getreue Ebenbild des Toten, selbst in den gefalteten Händen.

      Ich hatte ein heftiges Verlangen, zu ihm zu sprechen und vieles zu sagen, was ich hatte sagen wollen, aber ich sah nun, daß zwischen ihm und mir keine Worte mehr gewechselt werden konnten.

      Niemals ist etwas so sehr von Abwesenheit durchtränkt gewesen wie seine Anwesenheit an jenem sonnenhellen Morgen. Ich saß an seinem Bett und betrachtete die teure Maske, die mir so vertraut gewesen und nun schon so fremd geworden war, betrachtete sie lange Zeit und dachte dabei an zehntausend Dinge, die ganze Stufenleiter des Lebens hinauf und hinab. Ich empfand Schmerz über meinen Verlust und war doch auch, ich erinnere mich dessen, niederträchtig froh, selbst am Leben zu sein.

      Allmählich aber begann eine ungewohnte Kälte in der Herzgegend, zu ruhig und zu tief, um Furcht zu sein – alle anderen Eindrücke zu überragen. Ich versuchte, ihr zu entrinnen. Ich ging ans Fenster, und der Sonnenschein auf dem Rasen des Hügellandes schien etwas von dem frohen Zauber, den er bis dahin besessen hatte, verloren zu haben. Da waren das vertraute Dach des Hintergebäudes, die graue Steinmauer des Hofes, die Pferdekoppel mit dem alten, ausgedienten Pony, die Hecke und der steile Abhang des Hügels. Alles war da, aber es war nicht dasselbe.

      Die Kälte, die ich beim Anblick des toten Antlitzes empfunden hatte, wurde nicht geringer, sondern größer, als ich aus dem Fenster auf die gewohnte Landschaft blickte; sie war offenbar keine physische Empfindung; war nicht eine Kälte des Herzens, sondern der Seele, war ein ganz neues Gefühl, das Gefühl, allein und ohne Hilfe in einer Welt zu stehen, die ganz anders sein mochte, als sie mir schien.

      Ich wandte mich wieder meinem Onkel zu: Ein unbestimmtes Gefühl, etwas wie der Wunsch, gegen die Möglichkeit solch einer Veränderung Einspruch zu erheben, regte sich in mir.

      Noch einmal ergriff mich das Verlangen, zu ihm zu sprechen, doch ich erkannte, daß ich nichts zu sagen hatte.

      4

      Liebe und Olive Slaughter

      Einige Zeit hindurch setzte ich mein gewohntes Leben ohne wesentliche Veränderung fort. Die erste Empfindung der Einsamkeit, die mich am Totenbett meines Onkels überkommen hatte, blieb um mich schweben und verdichtete sich, anstatt zu verschwinden, doch bemühte ich mich eifrig, sie aus meinem Bewußtsein zu bannen, welches Bestreben er gewiß gutgeheißen haben würde.

      Ich hatte mir gleich nach meiner Graduierung eine Wohnung von bescheidenem Komfort gemietet, und zwar in Carew Fossetts, einem außerhalb von Oxford Richtung Boars Hill gelegenen Dörfchen. Dort blieb ich. Einige Freunde und Bekannte an der Universität und in deren Umkreis waren meine Welt, und so konnte ich mir keinen besseren Wohnort vorstellen. Ich versprach mir lange Ferien in den Alpen, in Skandinavien, Afrika und dem Nahen Osten, hoffte, daß ich vielleicht auf irgendwelche Art in der ernsteren und allerdings auch schwerfälligeren Welt Londons Fuß fassen würde, und zählte die künstlerische Anregung des Pariser Lebens zu meinen glücklichen Möglichkeiten. In Paris, so meinte ich nach der Mode der damaligen Zeit, konnte man Amerika und Rußland in einer zwar verdünnten, aber doch hinlänglich klaren Form kennenlernen. Also wandte ich Rußland selbst den Rücken zu: War es doch eine Wildnis mit einem pervertierten Alphabet und einer unsprechbaren Sprache; auch den aufreizenden Glanz New Yorks, seine Vergnügungen und sein buntbewegtes Leben schob ich als unangenehme, aber vermeidliche Tatsache von mir weg. Wenn Leute da hinübergingen, Amerikaner wurden und sich eine eigene Welt aufbauten, so sah ich nicht ein, warum mich das interessieren sollte.

      Ich besaß, das durfte ich mir eingestehen, eine gewisse geistige Regheit und war auch begabt, war mir aber über die Art dieser Begabung nicht im klaren; und ich war ängstlich bemüht, meine Fähigkeiten gut zu verwerten. Ich fühlte, daß mir ein ganz besonders glückliches Los zugefallen war, und hielt es für meine Pflicht, mich dieser Gunst des Schicksals würdig zu erweisen. Dafür schien mir eine künstlerische Betätigung sehr geeignet zu sein, und ich spielte mit dem Gedanken, der Welt eine Romantrilogie zu schenken – in jenen Tagen wurde ein Romanschriftsteller erst dann hochgeschätzt, wenn er eine Trilogie geschrieben hatte –, nach der Art Ruskins in den Galerien Europas Kunststudien zu betreiben und meine Eindrücke aufzuzeichnen, einen Kunstverlag zu gründen, der bibliophile Ausgaben verdienstvoller Werke herausbringen sollte, oder meine Erfahrungen in der Oxford University Dramatic Society als dramatischer Dichter zu verwerten. Auch andere Formen der Dichtkunst zog ich in Betracht: Eine Zeitlang beschäftigte mich der Plan zu einem Epos, doch fand ich schließlich, daß der Erwerb der notwendigen technischen Fertigkeiten meine schöpferische Kraft lähme. Bei alledem ließ ich die sozialen Fragen der Zeit keineswegs außer acht, sondern war mir wohl bewußt, daß dem vollendet künstlerischen Ausdruck meiner Bestrebungen ein moralischer und humanitärer Zweck zugrunde liegen müsse.

      Außerdem hatte ich mich dazu überreden lassen, die Angelegenheiten eines sterbenden Bogenschützen-Klubs in die Hand zu nehmen, und ich errang als Ehrensekretär dieser Gesellschaft beträchtliche Erfolge.

      Ich besprach die Frage meiner Lebenspläne mit fast jedermann, der mir zuzuhören geneigt war; insbesondere erörterte ich das Thema mit meinem Freund Lyulph Graves, in dessen Gesellschaft ich lange Spaziergänge zu machen pflegte, und mit Olive Slaughter, dem lieblichen jungen Mädchen, das ich bereits erwähnt habe. Die Bewunderung und Freundschaft, die ich diesem Geschöpf in meinen Studententagen entgegengebracht hatte, verwandelte sich nunmehr rasch in eine große und ideale Liebe. Wie strahlend war sie doch, wie blond und hübsch! Noch heute könnte ich mir tausenderlei reizende Einzelheiten ihrer Erscheinung ins Gedächtnis zurückrufen, wenn ich mich mit solchen Erinnerungen quälen wollte.

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