Ostfriesland verstehen. Helga Ostendorf
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Alois Wobben
(* 1952 Rastdorf/Emsland), Erfinder und Unternehmer
Nach einer Lehre als Elektromaschinenbauer studierte Wobben Elektrotechnik an der Fachhochschule Osnabrück und später an der Technischen Universität Braunschweig, wo er auch einige Jahre als Assistent tätig war. Bereits 1975 entwickelte er mit seinem Studienfreund Meinhard Remmers die erste Windenergieanlage. 1984 gründete er in Aurich die Firma „Enercon”. Zunächst produzierte man in einer Garage. Heute arbeitet die Firma weltweit, hat ihren Stammsitz aber nach wie vor in Aurich. In Deutschland werden 60% der durch Windkraft erzeugten Energie mithilfe von Enercon-Anlagen gewonnen; weltweit sind es 7%.[15] Das Unternehmen befindet sich nach wie vor in Familienbesitz.
Die Auswahl der hier aufgeführten Personen ist sicherlich durch persönliche Wahrnehmung geprägt. Auch Massenmedien spielen eine große Rolle, „sortieren” sie doch, was wahrgenommen wird und was nicht. Zudem geraten die Leistungen vieler Menschen häufig in Vergessenheit, sobald sie beruflich nicht mehr aktiv sind. Nur ältere Leser_innen werden sich z.B. noch an Heiko Engelkes erinnern (*1933 in Norden, †2008 in Köln), ARD-Korrespondent und zweiter Chefredakteur der Tagesschau). Auch der Name Reinhold Robbe (*1954 in Bunde, Wehrbeauftragter des Bundestages 1995-2010) dürfte vielen schon entfallen sein. Backhuyzen, Emmius, Reil und Pagels werden auch in 200 Jahren noch Weltruhm haben. Ob die anderen dann aber noch jemand kennt? Andersherum betrachtet: Vor zweihundert Jahren wird es möglicherweise auch Ostfriesen_innen gegeben haben, die damals eine wesentliche Rolle spielten, an deren Namen sich heute aber niemand mehr erinnert. So stieß ich kürzlich zufällig auf Wenzel Anton Graf Kaunitz, der 41 Jahre Staatskanzler Österreichs und einer der wesentlichen Kriegstreiber während des siebenjährigen Krieges (1756-1763) war. Seine Mutter kam aus Ostfriesland. Damals kannte ihn ganz Europa. Manche behaupten sogar, der Krieg habe so lange gedauert, weil Kaunitz sich nach einem Sieg Österreichs die Übereignung der Besitztümer der mütterlichen Familie erhoffte.
4.
„Seit Urzeiten …”
Geschlechterverhältnisse
„Was ist so falsch daran, sein Kind zu Hause zu betreuen, besonders in den ersten drei Jahren bis es zum Kindergarten geht? Seit Urzeiten wurde so verfahren und es hat den Kindern gutgetan; sie fühlten sich geborgen und geliebt” (Leserinnenbrief, OZ 2.7.2012).[16]
Es ist keineswegs seit „Urzeiten” so, dass kleine Kinder ausschließlich von der Mutter erzogen werden. Vielmehr entstand die Idee, dass Ehefrauen nicht erwerbstätig sein sollten, erst Ende des 19. Jahrhunderts. Die Realität sah vielfach anders aus. In Ostfriesland z.B. waren Frauen noch in den 1950er und 1960er Jahren zwar „zu Hause”, bewirtschafteten aber einen großen Gemüsegarten und zumeist waren auch ein Schlachtschwein, Hühner und Kaninchen zu versorgen. Zudem halfen sie auf den Bauernhöfen aus, um sich etwas hinzu zu verdienen. Heute ist in Ostfriesland die oben zitierte Auffassung häufiger anzutreffen. Im Ranking der Prognos-AG zur „Chancengleichheit am Arbeitsmarkt” schneiden die ostfriesischen Gebietskörperschaften weit unterdurchschnittlich ab.[17] Der Landkreis Aurich liegt auf dem vorletzten Platz der 402 Landkreise und Städte, der Landkreis Leer auf Platz 399, der Landkreis Wittmund auf Platz 389 und die Stadt Emden auf Platz 354.
Öffentliche Kinderbetreuung: Fehlanzeige
„Kindergarten bekommt Frühstücksraum”, heißt es in der Ostfriesen-Zeitung vom 5.4.2012. Nanu, können die Kinder nicht in dem Raum frühstücken, wo sie zu Mittag essen? Nein, zumindest nicht im Kindergarten der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde in Flachsmeer. Dort werden 112 Kinder betreut, ein Mittagessen ist aber nicht vorgesehen. Dies ist wahrlich kein Einzelfall, weder in Ostfriesland noch anderswo. In Ostfriesland aber wird eine solche Regelung kaum in Frage gestellt.
Bundesweit haben Kinder ab drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Dies bedeutet allerdings nicht, dass ein Anspruch auf einen Ganztagsplatz bestünde. In Niedersachsen muss für 90% der Kinder ein Vormittags- oder ein Ganztagsplatz bereitgestellt werden. Lediglich hilfsweise kommt ein Nachmittagsplatz in Frage. Aufsehen erregte eine Klage eines Ehepaares aus der Gemeinde Moormerland. Aus beruflichen Gründen brauchte es einen Platz am Vormittag, erhielt aber nur die Zusage für eine Nachmittagsbetreuung. Der Moormerländer Bürgermeister meinte dazu:
„Im letzten Kindergartenjahr vor der Schule hätten in Oldersum aber alle Kinder einen Vormittagsplatz bekommen, deren Eltern einen wollten oder brauchten” (ebd.).
Doch wer bestimmt darüber, welche Eltern einen Vormittagsplatz „brauchen”? Der Landkreis garantiert für 90% der Kinder in diesem Alter mindestens Vormittagsplätze, hat die Ausführung aber an die Gemeinden abgegeben. Die Gemeinde Moormerland, zu der Oldersum gehört, meinte, 68% seien genug und verteilte die wenigen Plätze wie folgt: 1. Kinder im Jahr vor der Einschulung, 2. Kinder, die möglicherweise im nächsten Jahr eingeschult werden, 3. Kinder, deren Eltern beide berufstätig oder allein erziehend sind, 4. Kinder, die vorher einen Nachmittagsplatz hatten. Faktisch verkürzte die Gemeinde den Rechtsanspruch auf Fünfjährige, wobei zudem noch nachgewiesen werden musste, dass diese in einem Jahr schulreif sein würden.
„Auf Dauer sinken die Zahlen. Vielleicht müsse man auch mal eine gewisse Zeit überbrücken”, sei die Meinung des Bürgermeisters (OZ 4.8.2012). Zwischenzeitlich zog die Klage des Elternpaares weitere Kreise. Eine Elterninitiative machte darauf aufmerksam, dass in Oldersum im September 2012 maximal 27 Kinder vom Kindergarten in die Grundschule wechselten, 39 Kinder aber auf der Warteliste des Kindergartens stünden. Die Klage und die Proteste scheinen gewirkt zu haben: Im Frühjahr 2013 stellte die Gemeinde für zwei Jahre einen Container auf und richtete eine zusätzliche Vormittagsgruppe ein. Eine Nachmittagsgruppe gibt es seither nicht mehr – mangels Nachfrage. Diese Geschichte zeigt zweierlei: Das Unverständnis mancher Ratsherren dafür, dass Mütter zumindest halbtags einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, und gleichzeitig zeigt das Beispiel auch, dass es keine Nachfrage nach einer Ganztagsbetreuung gibt. Die Klage des Ehepaars wurde vom Verwaltungsgericht übrigens mit der juristisch spitzfindigen aber inhaltlich umso trefflicheren Begründung abgewiesen, nicht die Eltern, sondern die Kinder hätten einen Anspruch. Bei der öffentlichen Kinderbetreuung geht es eben nicht darum, welche Eltern nach Ansicht eines Bürgermeisters einen Kindergartenplatz „brauchen”: Kindergärten sind keine Aufbewahrungsanstalten, sondern Bildungsstätten. Auf der Landkarte des Statistischen Bundesamtes zur öffentlichen Kinderbetreuung ist Ostfriesland ein weißer Fleck.
In Kindertagesstätten betreute Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren in Prozent 2010
Quelle: http://ims.destatis.de/indikatoren/Default.aspx?nsc=true&htt ps=1, Abruf 8.8.2012
Zusammengefasst: Ostfriesische Mütter sind nicht nur ein Jahr (während des Bezugs des Elterngeldes) zu Haus, sie sind auch nicht nur die ersten drei Jahre zu Haus, sondern während der folgenden drei Jahre müssen sie ihre Kinder mittags vom Kindergarten abholen: