Ostfriesland verstehen. Helga Ostendorf

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Ostfriesland verstehen - Helga Ostendorf

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sie schon wieder das Mittagessen vorbereiten. Darauf, dass Mütter erwerbstätig sind, sind solche Kindergärten nicht ausgerichtet.

      Ganztagsschule: erneute Fehlanzeige

      Im Landkreis Leer gibt es 50 Grundschulen. Nur acht davon boten 2012 eine Nachmittagsbetreuung an, fünf an mindestens vier und drei an drei Nachmittagen der Woche (OZ 16.3.2012). Das Interesse der Familien an einer Ganztagsbetreuung sei beträchtlich, ist die Meinung in der Kreisverwaltung. Das Problem sei jedoch, dass kleine Schulen nicht in der Lage sind, die Nachmittagsbetreuung zu organisieren. Abhilfe soll die Volkshochschule schaffen; sie soll die Schulen beraten, welche Vereine etc. die Nachmittagsbetreuung übernehmen könnten.

      Seitens der Schulen scheint das Interesse allerdings nicht allzu groß zu sein. Lediglich drei weitere Grundschulen haben zum Schuljahresbeginn 2012/13 eine Nachmittagsbetreuung aufgenommen. Damit wird an gerade Mal jeder fünften Grundschule eine solche angeboten und dies auch nur an drei oder vier Tagen. Mittlerweile haben 17 weitere Schulen einen Antrag gestellt, wovon 13 genehmigt wurden. Selbst wenn man die 17 Schulen hinzuzählt, wird mittelfristig immer noch nur jede zweite Schule eine Nachmittagsbetreuung anbieten.

      Ob es wirklich nur an der Unfähigkeit oder am Unwillen der Lehrkräfte liegt, die Nachmittagsbetreuung zu organisieren? Oder schätzen die Lehrkräfte die Situation realistischer ein als die Kreisverwaltung, und die Nachfrage ist gar nicht so groß? In Hollen z.B. plädierten nur 22% der Eltern für die Einrichtung einer Ganztagsschule, in Leer allerdings 80%.[18] Möglicherweise sind Städterinnen eher an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit interessiert als Frauen in den Dörfern.

      „Faul” an dem Ganzen ist vor allem das in Niedersachsen verfolgte Konzept der „offenen Ganztagsschule”, d.h. nachmittags findet „Irgendwas” statt, aber kein Unterricht.[19] Auch die Hausaufgabenbetreuung bleibt weiterhin an den Eltern „hängen”. Seltsam muten auch die Zahlenverhältnisse an: acht von 50 Schulen macht 16%. Selbst wenn man alle Schulen einbezieht, die Interesse bekundet haben, sind es in Zukunft auch nur 56% – im niedersächsischen Durchschnitt aber 85%: Ostfriesland wird deutlich benachteiligt. Beachtet werden sollte dabei auch, dass der Arbeitslohn in Ostfriesland erheblich unter dem westdeutschen Durchschnitt liegt: So manche Mutter hat weder ein Auto zur Verfügung, um ihre Kinder nachmittags zum Musik- oder Reitunterricht zu fahren, noch hat sie das Geld, solche Kurse zu bezahlen.

      Viele Kinder, junge Mütter

      Ostfriesinnen bekommen vergleichsweise viele Kinder. Zwischen 2000 und 2005 ist die Geburtenrate zwar deutlich gefallen (und seither wieder etwas gestiegen), mit 74,8 Geburten pro 1000 Frauen ab 20 Jahren liegt Ostfriesland aber immer noch erheblich über dem Bundesdurchschnitt von 64,9.[20]

      Auch bekommen ostfriesische Frauen ihre Kinder sehr früh. Fast jede vierte Mutter ist noch keine 25 Jahre alt und fast jede zwanzigste noch keine 20.[21] Von den ganz jungen Müttern dürften viele keine abgeschlossene Berufsausbildung haben und manche noch nicht einmal einen Schulabschluss.

      „Die Volkshochschule Leer plant einen neuen Tageshauptschulkursus. Dabei richtet sich das Angebot an Interessierte, die schwangerschaftsbedingt, durch Kindererziehung oder aus anderen Gründen ihre Schullaufbahn unterbrechen mussten” (OZ 16.10.2012).

      Doch auch wenn eine abgeschlossene Ausbildung vorliegt, haben viele der jungen Mütter erst wenig an Berufserfahrung sammeln können. Nach zehn Jahren ausschließlicher Kindererziehung – bei zwei und mehr Kindern auch länger – wird ein beruflicher Wiedereinstieg schwer. Ursache und Wirkung – ob die Mütter zu Hause bleiben, weil sie es für richtig halten, oder ob sie zu Hause bleiben, weil es an öffentlicher Kinderbetreuung fehlt – lassen sich nicht immer auseinander halten. Das Resultat ist in beiden Fällen eine geringe Erwerbsbeteiligung.

       Quelle: Berechnet nach: www.regionalstatistik.de, Tabellen 173-21-4 und 178-31-4, Abruf am 3.8.2012. Die Geburten der Frauen, die älter als 44 Jahre sind, wurden bei den „bis 44-jährigen” mitgezählt.

      Quelle: www.regionalstatistik.de, Tabelle 178-31-4, Abruf 8.8.2012.

      Erwerbsbeteiligung von Frauen

      In den Landkreisen Aurich und Leer (Arbeitsagentur Leer) sind nur 39 von 100 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen mit Frauen besetzt; in Emden/Wittmund (Arbeitsagentur Emden) sind es auch nur knapp 42. Auf 100 sozialversicherungspflichtig erwerbstätige Männer kommen im Gebiet der Arbeitsagentur Emden 70 und der Arbeitsagentur Leer 66 Frauen. Ostfriesland liegt damit deutlich unterhalb des Durchschnitts.

      Zu der verbreiteten Norm der ausschließlich häuslichen Kindererziehung und des damit zusammenhängenden Mangels an öffentlichen Kinderbetreuungsangeboten kommt hinzu, dass Arbeitsplätze wegen des unzureichenden öffentlichen Nahverkehrs häufig schwer zu erreichen sind. Das eine zieht das andere nach sich: Wo es keine Nachfrage nach öffentlichem Nahverkehr oder nach öffentlicher Kinderbetreuung gibt, wird solches auch nicht eingerichtet – und wo es diese Angebote nicht gibt, wird die Nicht-Erwerbstätigkeit von Müttern zur Normalität. Hinzu kommt, dass viele Frauen (nicht nur in Ostfriesland) Berufe wie Friseurin, Verkäuferin, Sprechstundenhelferin, Restaurantfachfrau und Hotelfachangestellte gelernt haben, in denen die Zahl der Ausbildungsabsolventinnen regelmäßig erheblich höher ist als die Nachfrage nach Fachkräften. Keinen ausbildungsgemäßen Arbeitsplatz finden zu können, erhöht die Bereitschaft zum Zuhausebleiben. Schließlich ist die Entscheidung auch abhängig von der erreichbaren Lohnhöhe (Krüger 1998, 147).

      Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Arbeitsmarkt in Zahlen. Sozialversicherungspflichtig und geringfügig entlohnte Beschäftigung. Nürnberg, Stichtag jeweils 30.9, eigene Berechnungen.

      Quelle: Berechnet nach: Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Arbeitsmarkt in Zahlen, Sozialversicherungspflichtig und geringfügig entlohnte Beschäftigte, Nürnberg, Stichtag 31.12.2011, Ausgaben für die Arbeitsagenturen Emden und Leer.

      Wichtig sein dürfte darüber hinaus auch die relative Attraktivität von 450-Euro-Jobs im Vergleich zum erreichbaren Netto-Verdienst in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Eine erhebliche Anzahl ostfriesischer Frauen arbeitet auf der Basis solcher Verträge. Im Jahr 2011 waren 69.000 Frauen sozialversicherungspflichtig erwerbstätig und fast noch einmal halb so viele – 33.000 – auf (damals) 400-Euro-Basis: Frauen die etwas „hinzuverdienen”, die keinen oder nur einen minimalen Rentenanspruch erwerben und die nicht krankenversichert sind, es sei denn, sie sind verheiratet und bei ihrem Mann mitversichert. Angesichts des niedrigen Frauenlohns in Ostfriesland „rechnet sich” dort eine nicht-versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit besonders. Im Landkreis Leer z.B. beträgt der durchschnittliche Verdienst Vollzeit erwerbstätiger Frauen brutto 1.874 Euro und der von Männern 2.525 Euro, (vgl. Kapitel 10). Arbeitet eine Frau halbtags (86 Std., Steuerklasse V) hat sie 637 netto.[22] Rechnet sie gegen, dass sie mit 40 Arbeitsstunden im Monat 400 Euro netto verdienen könnte, bringen ihr die zusätzlichen 46 Arbeitsstunden 237 Euro ein.

      Nach dem Lohnsteuerjahresausgleich sieht die Bilanz einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit zwar deutlich besser aus: Der Mann (Steuerklasse III) hat übers Jahr zu wenig Steuern bezahlt und die Frau (Steuerklasse V) erheblich zu viel.[23] Da aber aufgrund des Splitting-Verfahrens mit jedem Zuverdienst der

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