Politische Rhetorik der Gewalt. Dr. Detlef Grieswelle
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2. Politik ist wesentlich Praxis – also weder Theorie noch Technik, d. h. nicht Vollzug erkannter Wahrheiten und auch nicht sozialtechnisch geleitete Herstellung der Gesellschaftsordnung (Absage an absolute Wahrheitsansprüche, Bereitschaft zur Infragestellung im öffentlichen Diskurs, keine Determinierung von Entscheidungen, aber auch kein Dezisionismus);
3. unverzichtbar sind Konfliktregelungsmechanismen und institutionelle Vorkehrungen – über die grundlegenden Spielregeln der Demokratie hinaus (Apriori für produktive Austragung von Konflikten und Konsensbildung, die häufig in Form von Kompromissen erfolgt);
4. der politische Streit darf nicht reduziert werden auf bloßen Interessen-Machtkampf, sondern hat sich vor allem auch am Gemeinwohl auszurichten (das Gemeinwohl ist der eigentliche Sinn politischer Ordnung; es darf nicht missverstanden werden als Summe partikularer Interessen, auch nicht als vorgegebene feste Größe, die Interessen übergestülpt wird, sondern als ein im demokratischen Diskurs zu suchendes Regulativ);
5. es müssen bei den Bürgern Dispositionen in Form von Tugenden vorhanden sein, damit eine demokratische Streitkultur gelingt (Klugheit im Sinne praktischer Vernunft – Verbindung der Erkenntnis mit dem Wollen, des Wissens mit dem Handeln, des Denkens mit dem Tun; Kombination von Situationsanalyse, Sinn für das Mögliche im Licht des Wünschbaren, Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit; Gerechtigkeitswille – Verkehrsgerechtigkeit, zuteilende Gerechtigkeit, gesetzliche Gerechtigkeit; Zivilcourage – Mut zu eigener Meinung, Konfliktbereitschaft zur Findung guter Lösungen, Kampf für eine als recht erkannte Sache; Mäßigung – in Form von Zurücknahme der eigenen Person und Position, Verträglichkeit im Umgang).
Im Rahmen der Diskussion über das rechte Maß wird nicht selten auf die Zügelung und Disziplinierung von Aggressivität abgestellt. Gegensätze und Kampf bedeuten geradezu zwangsläufig auch Aggressivität gegenüber dem politischen Gegner im Sinne einer Beschädigung oder Verletzung, wobei diese häufig auch instrumentell eingesetzt werden, um Vorteile zu erzielen. Das moralische Postulat kann nur beinhalten, massive Aggressionen in Form verletzender Malediktion zu vermeiden bzw. einzugrenzen: Gemeint sind Hetze, Häme, Verleumdung, Verfluchung und Beschimpfung, Schmähung und Verunglimpfung, Drohung. Allerdings gibt es öffentlich konkurrierende gesellschaftliche Anschauungen darüber, inwieweit solche Schädigungen nicht akzeptiert werden können; obwohl aggressive Aussagen und Handlungen je nach politischem Standort zum Teil verschieden bewertet werden, existieren doch auch bezüglich der Aggression74 recht einheitliche Bewertungen der Legitimität und Illegitimität von Handlungen durch die Bevölkerung. Will ein Redner bei einem Publikum mit seinen Aussagen Erfolg haben, dann bedarf es also in der Regel einer gewissen Kontrolle seiner Aggressivität gegenüber dem politischen Gegner. Das kann geschehen durch sparsame Benutzung aggressionsfördernder Begriffe, Signale und Symbole, insbesondere von Parolen und Reizwörtern; durch Vermeidung falscher Attribution, also unangemessener Ursachen- und Schuldzuschreibung bei unerfreulichem Verhalten anderer Menschen; durch die Bereitschaft, Ziele wie Durchsetzung und Gewinn, Beachtung und Anerkennung, Abwehr und Schutz zu erreichen ohne Schädigung und Schadenszufügung, also ohne Aggression als Mittel zum Zweck; durch Verminderung von Abwertung und Herabsetzung; durch mehr verhaltensbezogene Kritik anstelle pauschaler Personabwertung, die in der Regel als stärkere Provokation empfunden wird und heftigere emotionale Abwehr oder Kränkung hervorruft; zu guter Letzt durch Vermeidung aggressiver Modelle, indem also, z. B. in Versammlungen, Diskussionsleiter, Moderatoren, Diskussionsteilnehmer etc. in ruhiger, konstruktiver Weise die Stimmung zu prägen versuchen.
Wenn um das Gemeinwohl gestritten wird und es um das soziale und politische Zusammenleben geht, dann muss wohl ein Mindeststandard an rationaler Auseinandersetzung dem politischen Diskurs als Maßstab angelegt werden. Denn dann sind nicht nur Propaganda und symbolische Kritik gefordert. Bei aller scharfen Gegenüberstellung von Standpunkten und deutlich artikulierter Infragestellung von Positionen, also bei aller dissonanten, konfliktorischen Auseinandersetzung, ist doch zu beachten, dass die Kontroversen zivilisiert ausgetragen werden. Entgleisungen wie Lüge, Verunglimpfung, bewusst grobe Unterstellung etc., wie sie besonders in Wahlkampfzeiten auftreten, dürfen nicht die Signatur des politischen Kampfes werden. Gefragt ist polemologische Kompetenz, gerade auch dann, wenn in Massenmedien eine publizitätsträchtige Auseinandersetzung erwartet wird, die die Aufmerksamkeit der Menschen findet und für das Publikum einen großen Unterhaltungswert besitzt. Den Gegner durch den Schmutz zu ziehen, ihn zu schmähen, zu denunzieren, das alles ist allerdings nicht erst seit Existenz moderner Massenmedien Realität, politischer Unflat hat vielmehr eine lange Tradition, man denke nur an die „Pasquinaden“ und an die „Mazarinaden“ im 16. und 17. Jahrhundert, wo die Beleidigung in der Politik einen gewissen Höhepunkt erreichte und zu einer hohen Kunst entwickelt wurde.
Da in der Bundesrepublik Deutschland eine aggressive Polarisierung von der Bevölkerung eher abgelehnt wird, ist hiermit eine Grenze gezogen gegen sprachliche Konfliktverschärfungsformen und erst recht gegen gezielte Angriffe auf die Würde des politischen Gegners. Empirische Forschungen haben denn auch bestätigt, dass im internationalen Vergleich die politische Auseinandersetzung sowohl im Parlament als auch außerhalb nicht von außergewöhnlicher Schärfe gekennzeichnet ist. Britische Sprachwissenschaftler konstatierten hierzulande eher Scheu vor rhetorischer Akzentuierung und eine Ablehnung konfrontativer Umgangsformen, das zeige sich besonders in den Bundestagsdebatten im Gegensatz zum britischen Unterhaus. Vielleicht ist eine mittlere Lösung die beste: Leidenschaftliche Kontroversen mit voller Hingabe und scharfen Meinungsverschiedenheiten einerseits, aber auch Vermeidung von stillosem Streit, geistlosem Machtinteresse, sklavischer Parteilichkeit und phraseologischer Propaganda andererseits; angewandt auf das Parlament, muss man sich abgrenzen von bloßem Schlagabtausch, bezüglich der Wahlkämpfe von Schlammschlachten und Verunglimpfungen75. Allerdings ist die parlamentarische Debatte keineswegs normativ zu überfrachten76, indem man sie vor allem als Veranstaltung zur Suche vernünftiger Lösungen betrachtet: Die Debatte hat längst keine sachliche Überzeugungsfunktion mehr, wie sie in Ausschüssen und Fraktionen von großer Bedeutung ist; das Plenum steht vor allem für deklaratorische Debatten zur Verfügung, die der Veröffentlichung und Rechtfertigung von im Wesentlichen parteipolitisch geprägten Positionen dienen. Debatten haben primär nicht die Funktion der Suche nach Entscheidungen, sondern die ihrer Legitimierung.
Die weitgehende Einhaltung der Normen eines maßvollen Umgangs miteinander erlaubt eine fruchtbare Nutzung der Gegensätze. Die Gemeinwesen bedürfen immer auch des sozialen Wandels und der Innovation, und nur über soziale Konflikte und ihren produktiven Austrag sind wesentliche Probleme zu lösen. Der Gegner im politischen Kampf fordert durch Widerspruch heraus, zwingt, fremde Überlegungen einzubeziehen, verlangt Beweglichkeit und schöpferische Kraft: Was Antoine des Saint-Exupéry77 als anthropologische Grundkonstante formuliert, gilt auch für den politischen Kampf: Wachsen durch den Gegner, der einem alles abverlangt, um überlegen zu werden, d. h. – in unserem Fall – um Mehrheiten zu gewinnen.
Entscheidungen in der parlamentarischen Demokratie gründen ihren Verbindlichkeits-anspruch letztlich auf Verfahren, nicht auf inhaltliche Richtigkeit; ansonsten gäbe es für eine unterlegene Minderheit keinen Grund, sich zu fügen. Dieser Grundkonsens kann in Gefahr geraten, wenn soziale Bewegungen, Protestgruppen etc. Misstrauen gegen etablierte Parteien und vor allem gegen Institutionen und Verfahren der parlamentarischen Demokratie hegen und für ihre Alternativprogrammatik die Möglichkeit plausibler Infragestellung durch den politischen Gegner bestreiten. Gefahren für eine vernünftige Konfliktaustragung drohen nicht durch den Typus der Volkspartei, der sowohl innerparteilich zur Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit zwingt, um die diversen Meinungen und Interessen zu bündeln, als auch nach außerhalb den Diskurs offenhalten muss, z. B. um Koalitionen zu bilden, in staatlichen Organen Mehrheiten zu finden und auf die politische Öffentlichkeit in aller Breite erfolgreich einzuwirken. Hingegen stellen kleinere Gruppierungen wie Alternativ- und Protestbewegungen gesonderte Provinzen politischer Sinnstiftung und Kommunikation dar, und solche Segmente verfolgen eher geschlossene, ideologisierte Politikangebote und sind nach außen viel weniger kommunikations- oder gar kompromissfähig. Es entwickeln sich hier milieuspezifische Selbstverständlichkeiten,