KNIGGE: Über Eigennutz und Undank. Adolph Freiherr von Knigge
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wahren oder eingebildeten Glücks, heimlich im Spiele
sey? Oder vermag der Mensch in seinem irdischen,
sinnlichen Zustande, nach höhern Bewegungsgründen,
nach angebohrnen, unwandelbaren Gesetzen zu handeln,
die, fern von aller Rücksicht auf seinen individuellen
Zustand, nur die Ausübung des reinen Guten, nur die
Erfüllung der Pflicht, ohne Absehn auf Erfolg und
Nützlichkeit, zum Gegenstande haben? Ist dies allein
Tugend zu nennen und darf nur der auf moralische
Vollkommenheit Anspruch machen, der nach solchen
Motiven handelt, die in allen Lagen, in allen
Verhältnissen, was für Folgen auch daraus entspringen
mögten, wie allgemeine Gesetze betrachtet werden
müssen? Giebt es endlich solche Bewegungsgründe? –
das sind Fragen, die seit einiger Zeit wieder so oft unter
den Philosophen zur Sprache kommen, daß es wohl der
Mühe werth scheint, ohne Systemgeist und ohne
Vorurtheil, mit der Fackel der Vernunft, noch einmal
diesen Gegenstand zu beleuchten, der vielleicht längst
nicht mehr im Dunkeln liegen würde, wenn nicht
unglückseliger Weise, durch die mystische Kunstsprache
gewisser Gelehrten, die einfachsten, klarsten Wahrheiten,
zu deren Ergründung nichts als ein gesunder
Hausverstand erfordert wird, so entstellt würden, daß sie
einen Anstrich von neuer Weisheit erhalten. Hierdurch
gewinnen freylich die Nachahmer dieser Lehrart den
Vortheil über ihre Gegner, daß, wenn man die unter einer
so barbarischen Firma zugleich mit durchschleichenden
Irthümer widerlegt, sie vorgeben und auch würklich
glauben können, man habe sie nicht verstanden. Fragt
man aber, woher es komme, daß ein so dunkles System
so viel Anhänger findet; so ist nicht schwer darauf zu
antworten. Alles Neue reizt die Wißbegierde; dem großen
Haufen scheint nichts erhabner, als was dunkel ist; eine
Menge sonst vernünftiger Menschen schämt sich, zu
bekennen, daß sie nicht verstanden habe, was sie mit
Aufmerksamkeit gelesen hat; wem es aber gelungen ist,
nach fleißigem Studio, den Sinn jener abstracten
Abhandlungen in verlohrnen Stunden zu entziffern, der
wird nicht das Verdienst dieser Bemühung verliehren und
gestehn wollen, daß er nichts Neues daraus gelernt habe.
Allein wir, die wir immer der Meinung bleiben werden,
daß solche Wahrheiten, die allen und jeden vernünftigen
Menschen nöthig und wichtig zu wissen sind, auch so
vorgetragen werden können und müssen, daß sie allen
und jeden vernünftigen Menschen verständlich werden,
wir wollen ihnen in jener Kunst nicht nachahmen,
sondern uns bestreben, die Frage: in wie fern die
Beförderung eigner Glückseligkeit als ein erlaubter und
edler Bewegungsgrund zu moralischen Handlungen
angesehn werden könne, so deutlich wie möglich aus
einander zu setzen und zu beantworten.
2.
Um zu entwickeln, wie etwa der Mensch, ohne
Betrachtung der Würkung seiner Handlungen auf die
Verhältnisse, darinn er sich befindet, handeln würde, wird
es nicht unnütz seyn, ihn uns ganz ohne jene
Verhältnisse, isolirt, zu denken; also nicht den Menschen,
der schon mit den Rechten, Vortheilen und
Verbindlichkeiten, welche ihm die bürgerliche
Gesellschaft gewährt und auflegt, gebohren wird,
sondern den einzeln stehenden Natur-Menschen. Und da
fragt sich's dann: wie kann und wird dieser die Tugend
kennen, lieben und ausüben?
3.
Der Natur-Mensch hat mit den übrigen Thieren das
gemein, daß er durch körperliche Anreizung, durch
Gefühl, durch Instinct, zu gewissen Handlungen
hingezogen wird. Er hat aber das vor andern lebendigen
Geschöpfen voraus, daß die Vernunft ihn die
Anwendung jenes Gefühls und Instincts zu bestimmten
sichern Zwecken lehrt und ihn determinirt, gewisse
Handlungen aus gewissen Ursachen zu unternehmen,
andre hingegen zu unterlassen.
4.
Sein Gefühl treibt ihn ohne Ordnung und Gesetz, zu
Allem, was ihm einen angenehmen Genuß der ihm
bekannten Gegenstände in der Welt gewähren und
zusichern kann. Höchstens lehrt ihn sein Instinct durch
Erfahrung, sich das Uebermaß des Genusses zu versagen,
überhaupt dasjenige nicht zu begehren, was ihm einmal
unangenehme Empfindungen erweckt hat, und also
wieder erwecken kann. Auch zieht ihn sein Instinct
unwillkührlich hin, zu andern lebenden und todten