Von Jerusalem nach Marrakesch. Ludwig Witzani
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Die Stationen X bis XIV befanden sich bereits in der Grabeskirche, vor deren Eingang sich die Touristengruppen zu allen Tageszeiten stauten. Die Grabeskirche von Jerusalem war die heiligste Kirche der Christenheit, aber es war ein Heiligkeit, die derart profaniert war, dass sich Jesus, wäre er nicht längst wieder auferstanden, vor Widerwillen im Grab umdrehen müsste. Eingezwängt im Muslimviertel an der Grenze zum Christenviertel, umlagert von Geldwechslern und Tschaiverkäufern, immer von Bauarbeiten verunstaltet und so verwinkelt gebaut, dass sich von keinem Punkt aus eine Gesamtansicht ergab, im Innern zentimeterweise zwischen den einzelnen christlichen Konfessionen parzelliert, glich sie eher einem religiösen Rummelplatz als einem Ort der Andacht und der Besinnung. Rechts neben dem Eingang befand sich der Platz des muslimischen Auf- und Zuschließers, es folgte der Salbungsstein, rechts davon der Ort der Kreuzigung und des Todes. Wandte man sich nach links, gelangte man unter eine große Rotunde, in der man einen Blick auf die leere Grabkapelle werfen konnte. Gebückt bewegten sich die Pilger im Entengang durch den Grabraum, argwöhnisch beobachtet von bärtigen Hierokraten, ehe sie einen vollkommen verkitschten kleinen Raum mit dem leeren Grab erreichten, dessen Inneres aber nicht zu sehen war, weil zwei Marmorplatten auf ihm lagen.
Gegenüber der Grabeskapelle öffnete sich der Eingang zur Kapelle der heiligen Helena, der Mutter Kaiser Konstantins des Großen. Der Kaiser hatte schon im Jahre 325 den Aphrodite Tempel auf dem Golgatha Hügel abreißen und eine erste Grabeskirche erbauen lassen. Wer jenseits der Kapelle der heiligen Helena noch nicht genug hatte, konnte eine Station weiter eine Kapelle besuchen, die an dem Ort errichtet worden war, an dem man das Original-Kreuzigungsholzkreuz gefunden haben wollte. Kein geringer als der später erschossene unglückliche Kaiser Maximilian von Mexiko hatte den Altar dieser Kapelle gestiftet.
So lief ich von Station zu Station, von Wand zu Wand und Bild zu Bild und wurde immer ernüchterter. Am Ende sehnte ich mich regelrecht nach einer völlig bilderfreien und geräumigen Moschee, in der ich mich von diesem Religionskitsch erholen könnte. Obwohl ich mit dem Islam meine Schwierigkeiten habe und das Christentum in ethischer Hinsicht ungleich höher schätze, gebührte dem Islam, dieser stolzen Religion der Selbstgewissheit, im Hinblick auf die ästhetische Gestaltung seiner Gotteshäuser Anerkennung und Bewunderung. In den Augen der Pilger habe ich an diesem Tagen nicht erkennen können, ob sie ähnlich empfanden. Ich beobachtete nur, wie sie, von ihren Reiseführern einer kompletten Verdinglichung ausgesetzt wurden: Ihnen wurden zusammengeklaubte Artefakte als Objekte mit Heilsgehalt verkauft, als regelrechte Fetische, von denen behauptet wurde, ihre Gegenwart sei dazu angetan, die Gnade des Herrn in besonderer Weise anzuziehen. Konnte man sich überhaupt etwas Heidnischeres vorstellen? Was ich in der Grabeskirche zu sehen bekam, war im Kern nichts anderes als eine Religion des Befingerns. Was der Pilger küsste, streichelte oder begrabschte, war eigentlich egal: Hauptsache der Fetisch stand am richtigen Ort, was aber auch nicht stimmte.
Als die Protestanten in die Religionsgeschichte eintraten, waren alle wichtigen Plätze in der Grabeskirche von Jerusalem bereits durch Nestorianer, Armenier, Äthiopier, Kopten, Orthodoxe und Katholiken vergeben. Wen wunderte es, dass sie die historische Wirklichkeit einfach uminterpretierten und sich eine andere Grabeskirche, die sogenannte Erlöserkirche, erbauten.
Als ich mich nach dem Besuch der Grabeskirche in einem arabischen Teehaus sammelte, brummte mir der Kopf. Konnte es ein, dass zu viel Mythologie Kopfschmerzen verursachte? Inzwischen hatte ich fünf Mythen kennengelernt: den jüdischen, den christlichen und den islamischen Mythos zu denen sich noch der Mythos der Kreuzfahrerzeit und der Mythos von der Entstehung des Staates Israel hinzugesellte. Allen diesen Mythen war gemeinsam, dass sie nicht nur ineinander übergingen, sondern schmerzhaft lebendig waren. Sie bestimmten das Fühlen, Werten und Verhalten der Menschen, das deswegen für einen Außenstehenden kaum verständlich war. Vielleicht war der kollektive Wahnsinn, an dem die Bewohner des Heiligen Landes litten, die Folge davon, dass die Geschichte „zu schwer“ geworden ist, dass zu viele mythische Erzählungen in den Köpfen der Menschen durcheinandergingen. Wieder hatte ich den Eindruck: Zu viel Religion auf zu engem Raum.
In Mexiko hatte ich vor einem halben Jahr die bildschöne Israelin Nurid kennengelernt, eine scheue, zarte Frau, die alleine durch Mittelamerika reiste. Sie war so ganz anders als die kampferprobten israelischen Flintenweiber, die ich von meinen indischen Reisen her kannte. Sie wünschte keine Gesellschaft, jedenfalls keine ständige, so dass es mir in Mexiko nur hin und wieder gelungen war, mich in ihrer Gegenwart festzusetzen, sie scheinbar beiläufig zu befragen, sie zu bestaunen und mich schließlich in sie zu verlieben. Ich bin sicher, dass sie meine Zuneigung bemerkte, doch da ich mich zurückhielt, duldete sie meine Gegenwart schließlich doch. Wir spazierten über den Strand von Puerto Escondido, und sie erzählte vom Kibbuz, von ihrem Onkel, der im Libanon gefallen war, von Haifa und ihren Plänen, Lehrerin zu werden, eine Lehrerin für israelische und für palästinensische Kinder gleichermaßen. Ich hatte ihr erzählt, dass ich über den Jahreswechsel durch Israel reisen würde, und sie hatte nicht den Kopf geschüttelt, als ich ihr etwas dreist ankündigte sie bei dieser Gelegenheit in Jerusalem anrufen zu wollen. Dass sie mir sogar ihre Telefonnummer gab, hatte mir den Tag vergoldet, und so hatte mich ihr Bild in den letzten Monaten bei der Vorbereitung der Reise begleitet. Allerdings hatte ich den Anruf nach meiner Ankunft in Israel immer wieder vor mich hinausgeschoben.
Endlich fasste ich mir ein Herz und rief eine Jerusalemer Nummer an. Ein Mann nahm ab und war überrascht, als ich nach Nurid fragte. Als ich ihm erklärte, wer ich sei und dass ich Nurid in Mexiko kennengelernt hatte, berichtete er, dass ich Nurid nicht sprechen könne, weil sie verschwunden sei. Die letzte Nachricht von ihr habe die Familie im Oktober aus Chihuahua in Nordmexiko erhalten, und das letzte, was man von ihr wusste, war, dass sie über Ciudad Juarez und El Paso in die USA einreisen wollte. Seitdem habe man nichts mehr von ihr gehört. Nurids ältester Bruder befinde sich zurzeit in Amerika, um nach ihrem Verbleib zu forschen. Ich schwieg und wusste nicht, was ich sagen wollte. Nurid, diese zarte Blume, auf der Avenida de los Bandidos zwischen Ciudad Juarez und Chihuahua? Allein bei dem Gedanken wurde mir übel. Dann fragte Nurids Bruder, ob ich mir vorstellen könnte, wo sie sich aufhielte. Ich verneinte und erzählte, dass wir uns am Pazifik in der Nähe von Acapulco getroffen und nach ein paar Tagen schon wieder getrennt hätten. Und nein, fügte ich ungefragt hinzu, es war niemand bei ihr, sie war alleine unterwegs. Auf der anderen Seite sei Nuris nicht das erste Mal verschwunden, fuhr der Bruder fort. Im letzten Jahr war sie sechs Monate in Südostasien unterwegs gewesen, ohne sich ein einziges Mal zu melden. Man hatte schon die Polizei in Bangkok kontaktiert, als sie plötzlich wieder in Jerusalem vor der Türe gestanden hatte. Darauf hoffe die Familie auch jetzt, auch wenn Nurids Mutter vor Kummer kaum noch schlafen konnte. Ich hinterließ meine Mailadresse und bat um Nachricht, wenn Nurid wieder auftauchen würde.