PICKNICK IN PLUNDERLAND. Erhard Schümmelfeder
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Eines Morgens nach den Ferien sprachen wir Kinder im Klassenzimmer über Fräulein Lampe.
„Ich finde, sie sieht wunderschön aus“, sagte Silke zu ihrer Schwester Simone.
„Ja.“
„W-w-ie eine Königin“, sagte ich und kletterte über die Schulbank auf meinen Platz in der ersten Reihe.
”Blödmann“, zischelte Nina von der Fensterbank her.
„Vielleicht w-w-erde ich sie heiraten“, verkündete ich großtönend, und fügte hinzu: „W-w-enn ich etwas größer bin!“
„Haha!“, ließ Alexander sich mit gespielter Belustigung vernehmen. „W-w-w-enn ich etwas größer bin“, ahmte er meine Stimme nach. Alle nannten ihn nur Angeber, denn er war auch einer.
„Warum eigentlich nicht?“, fragte Babette laut und selbstbewusst in die lachende Runde, die plötzlich verstummte. Babette war sehr nett. Außerdem war sie nicht nur das hübscheste, sondern auch das gescheiteste Mädchen in unserer Klasse. Alle hatten Respekt vor ihr.
„Kann ich mir nicht vorstellen“, sagte die kleine Minni aus der letzten Bankreihe.
„Ich wüsste aber, wer Frl. Lampe heiraten könnte“, ließ Eule sich vernehmen.
„Wer denn?“, wollten alle wissen.
„Vielleicht Herr Presszeh, Picknicks Vater!“
„Das glaube ich nicht“, sagte Angeber, schob die Unterlippe vor und schüttelte entschieden seinen Kopf.
„Warum denn nicht?“, bohrte Simone.
Aber Angeber antwortete nicht. Er zeigte ihr nur einen Vogel und schüttelte weiter seinen Kopf.
Alle Kinder waren der Meinung, mein Vater und Frl. Lampe wären ein bildschönes Paar. Irgendwann einmal, so hofften wir, würde mein Vater unsere junge Lehrerin vielleicht heiraten. Dann wieder waren wir uns doch nicht mehr so sicher, dass sich dieser Wunsch je erfüllen würde, denn wir gewannen im Laufe der nächsten Tage mehr und mehr den Eindruck, mein Vater sei schüchternste Mann von Plunderland. Außerdem sprach er viel zu selten mit Frl. Lampe.
„Sie müssten öfter miteinander reden“, sagte Babette eines Morgens, als die Klingel gerade den Unterrichtsbeginn ankündigte.
„Ich weiß, w-w-ie man es anstellen muss, damit mein Vater Frl. Lampe heute einmal anspricht“, sagte ich in die Klasse hinein. Alle verstummten.
„Weißt du nicht“, sagte Angeber, der zwei Plätze rechts neben mir saß.
„Wie sollte man es denn anstellen?“, erkundigte Babette sich. Sie schien sehr gespannt auf die Antwort zu sein.
„Heute in der Pause spricht mein Vater mit Frl. Lampe!“, prophezeite ich geheimnisvoll.
„Das will ich sehen!“, höhnte Angeber.
„W-w-ollen wir wetten?“, fragte ich.
„Nein, wir w-w-w-etten nicht“, ahmte Angeber mich wieder nach.
Die Klassentür öffnete sich, und Frl. Lampe kam herein. Sie legte ihre kastanienbraune Ledertasche auf das Lehrerpult und sagte gutgelaunt:
„Guten Morgen, Kinder!“
„Guuuuuuuten Mooooooorgen!“, ertönte es fröhlich aus der Klasse zurück.
Aufmerksam betrachteten alle Kinder unsere junge Lehrerin in ihrem leichten cremeweißen Sommerkleid mit roten Punkten. Um die Hüfte trug sie einen schwarzen Gürtel mit einer silbernen Schnalle, die eine Schlange darstellte.
„W-w-ie eine Königin“, flüsterte ich Silke, die neben mir saß, ins Ohr. Sie streckte mir die Zunge heraus und blickte auf Frl. Lampe, die ihre Tasche öffnete und das Lesebuch herauszog. Ich hatte das Gefühl, alle aus unserer Klasse beobachteten mich, doch dann wurden sie abgelenkt durch eine spannende Geschichte, die Frl. Lampe uns vorlas: sie handelte von einem Jungen, der beim Ziegenhüten ein Lagerfeuer machte und einige Steinbrocken um die Feuerstelle legte, damit die Flammen sich nicht ausbreiten konnten; auf einmal bemerkte der Junge, wie die Steine zu glühen begannen. Als er bald darauf den Leuten aus seinem Dorf hiervon erzählte, wollte ihm zuerst niemand glauben. Aber bald erkannte man, dass der Junge die Wahrheit gesagt hatte, und man nannte die Steine Kohlen...
Während Frl. Lampe vorlas, behielt ich ihre Tasche fest im Auge.
Nach zwei Schulstunden läutete es zur Pause. Alle Kinder eilten mit ihren Butterbroten und Kakaoflaschen auf den sonnenwarmen Schulhof hinaus.
Als ich wenig später meinen Vater unter der Pausenhalle erblickte, lief ich sogleich zu ihm und rief laut und für alle Jungen und Mädchen der Schule hörbar:
„Herr Presszeh! Frl. Lampe hat ihr Frühstücksbrot heute vergessen!“
„Na sowas“, sagte mein Vater trocken. Offensichtlich fand er diese Tatsache nicht sonderlich beunruhigend.
Ein rothaariges Mädchen namens Ann-Christin kam über den Hof gelaufen.
„Herr Presszeh!“
„Was gibts denn?“
„Melissa hängt mit ihrer Jacke im Stacheldraht!“
„Noch ein Unglück“, sagte mein Vater gelassen. Nichts schien ihn aus der Ruhe bringen zu können.
Zusammen mit den Kindern, die uns neugierig umringten, überquerten wir den geteerten Hof, um zum Zaun zu gelangen. Es war ziemlich leicht, Melissa vom Stacheldraht zu befreien.
„Au“, ließ mein Vater sich vernehmen.
„Was ist denn?“, fragte ich.
„Jetzt habe ich mir den Finger am Zaun aufgeritzt.“ Ein Blutstropfen erschien an seinem rechten Zeigefinger.
„Ablecken!“, rief ich.
Gehorsam steckte mein Vater den verletzten Finger in den Mund und lutschte daran.
„Schmeckts?“
„Hab schon Süßeres geschleckt“, sagte er.
„Der Finger muss verbunden werden“, sagte ich.
„So schlimm ist es nicht“, sagte mein Vater, ohne an die Gefahren zu denken, von denen er mir so oft gepredigt hatte.
„Ich sage schnell Frl. Lampe Bescheid!“, rief ich.
„Das wird nicht nötig s-“
Aber schon sssssssauste ich los zum anderen Ende des Schulhofes, wo Frl. Lampe vor der Holzbank einem Mädchen eine rosafarbene Schleife