Morgentod. Ole R. Börgdahl
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»Wie gesagt, es sind sehr wahrscheinlich weitere Organe vom Schrot durchsiebt worden«, antwortete Dr. Loos. »Und so vermutlich auch die Lunge. Die Schussverletzung muss nicht sofort tödlich gewesen sein. Die Verletzung und das viele Blut haben die Lunge außer Funktion gesetzt. Die Frau kann durchaus erstickt sein, bevor sie verblutet ist.«
Bruckner nickte. Er und Dr. Loos erhoben sich fast gleichzeitig. Bruckner wandte sich an Hartmann und mich. Ich ging um die Leiche herum, stellte mich Bruckner und Hartmann gegenüber. Gemeinsam sahen wir uns den Rest des Arrangements an. Dieses Wort ist sehr passend, finde ich. Nach dem Ereignis, das heißt nach dem Sturz und dem Tod der Frau, haben alle Gegenstände einen bestimmten Ort eingenommen. Die Feststellung, ob sich diese Orte physikalisch erklären lassen, oder künstlich hervorgerufen wurden, gehört zur wichtigsten Arbeit der Polizei und der Spurensicherung. Hartmann hatte sich bereits eine Meinung gebildet. Er ließ Bruckner und mir aber genug Zeit, damit wir selbst zu einem Bild kamen.
Der Schrank aus dunklem, poliertem Mahagoniholz, war etwa zwei Meter hoch und hatte zwei teilverglaste Türen, die auch den Unterschrank abdeckten. Beide Türen waren bis zum Anschlag geöffnet. Im Unterschrank befand sich eine Art Tresor. Bruckner zog an dem Metallgriff, der Tresor war aber verschlossen. Über dem Unterschrank, auf dem massiven Trennboden, standen drei Gewehre aufrecht in ihren Halterungen. Ein viertes Gewehr war nach vorne gekippt. Der Lauf zeigte schräg nach oben. Die Gewehre waren an den Abzugsbügeln durch ein kunststoffummanteltes Stahlkabel gesichert, das bei allen Waffen allerdings oberhalb des Abzugs verlief. Die Schlaufe am Ende des Sicherungskabels war über einen Riegel geschoben, der wiederum mit einem stabilen Vorhängeschloss versehen war. Bruckner betrachtete sich die Anordnung. Er beugte sich in den Schrank und prüfte das Vorhängeschloss, dessen Bolzen eingerastet war. Der Kolben des schräg nach vorne ragenden Gewehrs hatte die Innenwand des Schrankes gespalten.
»Rückschlagskraft!«, kommentierte Bruckner.
Er befühlte das Holz und kratzte am Gummiabrieb, den der Kolben hinterlassen hatte. Er zog den Kopf aus dem Schrank. Dann fiel sein Blick auf den kleinen Schlüssel, der auf dem Teppich, unmittelbar vor dem Mahagonischrank lag. Er deutete darauf.
»Das ist ein Bohrmuldenschlüssel«, erklärte Hartmann. »Der könnte für das Kabelschloss passen.«
»Nicht für den Schrank?«, fragte Bruckner.
»Den Schrank kann man nicht abschließen, hat kein Schloss und keinen Riegel.«
»Und! Passt der Schlüssel für das Sicherungskabel?«
»Wir haben ihn noch nicht angerührt«, antwortete Hartmann. »Wegen der Fingerabdrücke. Wir hatten noch keine Zeit, uns um die Fingerabdrücke zu kümmern.«
»Handschuh!«, forderte Bruckner.
Hartmann nickte und zog einen blauen Venylhandschuh aus seiner Jackentasche. Er reichte ihn Bruckner, der ihn sich über die rechte Hand streifte.
»Aber nichts verwischen«, warnte Hartmann.
Bruckner schüttelte verächtlich den Kopf, ging in die Hocke und nahm den kleinen Schlüssel vom Boden auf. Er hielt ihn vorsichtig am Schlüsselbart fest. Hartmann war schon zu seinem Koffer gegangen und kam mit einem feinen Pinsel und einem Fläschchen Rußpulver zurück. Bruckner hielt ihm mit spitzen Fingern den Schlüssel hin und Hartmann strich das Rußpulver auf. Anschließend pustete er und schüttelte gleich den Kopf.
»Ist wohl kaum brauchbar.«
»Nimm den Abdruck trotzdem«, forderte Bruckner ihn auf.
Hartmann hatte auch schon einen Klebestreifen dabei und fixierte das Reißpulver. Nachdem die Prozedur beendet war, wischte Bruckner über den Schlüssel, setzte sich wieder auf die Knie und beugte sich in den Schrank hinein. Er probierte es, ohne das Schloss des Sicherungskabels ganz zu öffnen.
»Passt!«, war die knappe Aussage.
Hartmann nickte. Bruckners Blick richtete sich auf den Tresor im Unterschrank. Er setzte den Schlüssel an, drehte ihn und öffnete die Tresortür.
»Na bitte!«
Er bückte sich noch ein Stück tiefer und blickte ins Innere des Tresors. Er griff hinein und holte eine angebrochene Packung Schrotmunition hervor.
»Da haben wir ja die Übeltäter«, kommentierte Bruckner seinen Fund. »Es fehlen allerdings sechs Patronen.« Er griff noch einmal in den Tresor und zog eine zweite Packung heraus. »Und da haben wir auch Kugelmunition.«
Bruckner schob die Patronenpackungen zurück in den Tresor, schloss den Tresor aber nicht wieder ab, sondern zog nur den Schlüssel und gab ihn Hartmann.
An dieser Stelle hätte man die ersten Spekulationen über die Geschehnisse vornehmen können, doch das war noch zu früh. Es waren noch nicht alle Fakten zusammen und so schwiegen Bruckner und Hartmann und ließen Spuren Spuren sein. Bruckners Blick richtete sich jetzt vielmehr auf die Gewehre.
»Was sind das für Waffen?«, fragte er nach kurzer Überlegung.
Hartmann schüttelte den Kopf. Dr. Loos, der noch immer am Kopf der Leiche stand, hob zaghaft den Arm.
»Entschuldigen Sie, ich kenne mich da aus.«
»Was heißt das, Sie kennen sich aus?«, rief Bruckner.
Dr. Loos kam ein paar Schritte näher zum Schrank. »Ich kenne nicht diese Waffen, aber ich kenne mich mit solchen Jagdgewehren aus.«
Bruckner nickte zustimmend. »Und das sind Jagdgewehre?«
»Jagdflinten, um genau zu sein«, bestätigte Dr. Loos beinahe eifrig. Er deutete in den Schrank. »Die Erste, das ist eine Bernadelli, eine Blockflinte. Das sieht man an den übereinanderstehenden Flintenläufen. Ein wirklich schönes Stück.« Er räusperte sich. »Daneben haben wir eine Beretta Perennia, auch eine Blockflinte. Und daneben, die Dritte, das ist ein Drilling, eine Sauer & Sohn 3000 Luxus. Wissen Sie, was ein Drilling ist?«
»So in etwa«, antwortete Bruckner.
»Also der Drilling ist eine kombinierte Waffe mit zwei Schrot- und einem Kugellauf. Darum auch die Kugelmunition im Tresor. Wer in seinem Revier mit verschiedenen Wildarten zu tun hat, wird immer mit einem Drilling unterwegs sein. Er wird die klassische Kugelmunition vor allem für Schalenwild einsetzen, während für das Niederwild Schrotmunition benötigt wird.«
Bruckner hatte sich wieder zum Schrank umgewandt, während Dr. Loos sein Wissen preisgab. »Gut, gut, ich glaube ich habe verstanden.« Er zeigte auf die Waffe ganz Rechtsaußen, die weiterhin nach vorne gezogen war.
»Und diese hier?«
»Eine Blaser F3 Competition. Die Competition hat einen sehr langen Lauf. Das Projektil erfährt dadurch eine höhere Beschleunigung.« Dr. Loos zögerte einen Moment. »Es passt sehr gut zu den Verletzungen der Toten. Hohe Auftreffgeschwindigkeit der Schrotkugeln, bei geringer Streuung.«
»Was sagten Sie noch, aus welcher Entfernung wurde geschossen?«
Dr. Loos überlegte. Er wandte sich zu der Toten, als wenn er seine vorherige Aussage noch einmal überprüfen wollte. Dann sah er Bruckner wieder an.
»Ich