Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
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Der Tod hielt eine furchtbare Ernte, denn das Land war krank und brauchte eine Atempause, ehe das ärmliche Leben wieder anfangen konnte, auch nur schwach zu pulsieren. Die Kinder unreifer Väter und unentwickelter Mütter leisteten der Epidemie gar keinen Widerstand; es überfiel sie und sie saßen still, bis das Schwert des Novembers sie hinraffte, wenn das Schicksal es wollte. Auch in die Reihen der Engländer wurden Breschen gerissen, aber immer wieder von neuen Menschen ausgefüllt. Die Hungersnotbehörde trat in Tätigkeit, Cholerabaracken erstanden, Medizinen wurden verteilt, - kurz alle die kleinen, fast wirkungslosen Sanitätsmaßnahmen wurden getroffen, die die Regierung befohlen hatte.
Holden mußte sich bereit halten, jeden Augenblick seinen Vormann zu ersetzen, falls dieser weggerafft werden sollte. Oft vergingen zwölf Tagesstunden, ehe er Ameera wiedersehen durfte, - sie konnte inzwischen gestorben sein! Er malte sich den namenlosen Schmerz aus, wenn ihn das Los träfe, drei Monate fern von ihr sein zu müssen; oder wenn sie stürbe in seiner Abwesenheit. So gewiß wußte er in seinem Innern, daß sie ihm entrissen werden würde, so unfehlbar gewiß, daß er nur krampfhaft auflachte, als eines Tages Pir Khan atemlos vor ihm stand im Torweg. »Und?« fragte er kurz ---
»Wenn in der Nacht sich ein Schrei aus der Brust ringt und der Geist die Kehle drosselt, wer hätte da noch einen helfenden Zauberspruch? Komm schnell, Hirnmelsentsprossener! Es ist die schwarze Cholera.«
Holden raste auf seinem Pferd in gestrecktem Galopp nach Hause. Der Himmel war schwer von Wolken, denn der lang ersehnte Regen hing in der Luft; die Hitze brütete zum Ersticken. Ameeras Mutter kam ihm entgegen in den Hof und winselte: »Sie stirbt. Sie huschelt sich selbst in den Tod hinein. Sie ist fast schon gestorben. Was soll ich tun, Sahib?«
Ameera lag in dem Zimmer, in dem sie Tota geboren hatte. Sie erkannte Holden nicht mehr, als er eintrat; die menschliche Seele ist ein einsames Wesen: wenn sie sich rüstet zum Aufbruch, schweift sie hinüber in das dunkle Grenzland, in das ihr die Lebenden nicht folgen können. Die schwarze Cholera vollbringt ihr Werk, stumm - erbarmungslos, aber ohne Kampf. Ameera schied aus dem Leben, als hätte der Engel des Todes selbst sie bei der Hand genommen. Die schnellen Atemzüge bewiesen, daß sie weder litt noch sich fürchtete, aber weder Lippen noch Augen gaben eine Antwort auf Holdens Küsse. Da war kein Rat mehr und keine Hilfe. Holden konnte nur schweigen, warten und leiden. Draußen fielen die ersten Regentropfen auf die Dächer, und er konnte die Freudenschreie hören, die durch die Straßen der entvölkerten Stadt liefen.
Da kam die Seele Ameeras für einen Augenblick zurück und die Lippen bewegten sich. Holden beugte sich über sie. »Nimm nichts von meinen Sachen«, flüsterte sie, »nimm nicht ein Haar von meinem Haupte. ›Sie‹ - die Andere -, würde später alles verbrennen. Die Flamme würde auch mich verzehren! Tiefer! Beug dich tiefer zu mir herab! Nur an das eine denke immer: daß ich dein war und dir einen Sohn geboren habe. Und wenn du morgen ein weißes Weib freiest und hältst in den Armen deinen Sohn, - einen Sohn, der vor allen Menschen deinen Namen tragen wird, - so denke an mich. Alles Unheil, das ihn treffen könnte, falle auf mein Haupt. Zeuge bin -« Ihre Lippen hauchten die Worte des mohammedanischen Glaubensbekenntnisses in sein Ohr: »Zeuge bin ich: es gibt nur einen Gott - aber das bist du, Geliebter!«
Dann verschied sie. Holden saß regungslos, und alles Denken war von ihm gewichen, bis er hörte, daß Ameeras Mutter den Vorhang hob.
»Ist sie tot, Sahib?«
»Tot.«
»Dann will ich die Totenklage anstimmen und nachher ein Verzeichnis der Möbel aufnehmen. Denn es gehört mir. Der Sahib wird sie doch nicht beanspruchen? Es ist wenig, Sahib, sehr, sehr wenig, und ich bin ein altes Weib. Ich möchte es gern behaglich haben.«
»Um Gottes Barmherzigkeit willen, schweig! Geh hinaus und stimm die Totenklage an, wo ich es nicht höre.«
»Sahib, sie muß in vier Stunden bestattet werden!«
»Ich weiß, es ist so Sitte. Ich werde gehen, ehe sie sie holen. Ich lege es in deine Hand. Sieh zu, daß das Bett, auf dem - auf dem sie liegt -«
»Aha! Das schöne rotlackierte Bett. Ich hab's schon lang gewünscht.«
»Daß das Bett unberührt bleibt und zu meiner Verfügung. Alles übrige im Haus ist dein. Miete einen Karren, nimm alles, geh fort; noch vor Sonnenuntergang darf nichts mehr hier sein, außer das, was du zu respektieren hast, wie ich dir gesagt habe.«
»Ich bin ein altes Weib. Wenn ich wenigstens bleiben könnte über die Tage der Totenklage, und bis der Regen nachläßt. Wohin soll ich denn gehen?«
»Was kümmert das mich? Mein Befehl lautet: Du hast zu gehen. Das Hausgerät ist tausend Rupien wert, und meine Ordonnanz wird dir heute nacht hundert Rupien bringen.«
»Das ist sehr wenig. Bedenke, was die Karrenmiete kostet.«
»Es wird zu nichts zusammenschrumpfen, wenn du nicht gehst, und zwar sofort. Weib, geh hinaus und laß mich allein mit meiner Toten!«
Die Alte schlurfte die Treppe hinunter und vor lauter Gier nach den Sachen im Haus vergaß sie die Totenklage. Holden stand an Ameeras Lager und die Regenschauer prasselten auf das Dach hernieder -; er konnte infolge des lauten Geräusches keinen klaren Gedanken fassen, sosehr er sich auch bemühte. Dann kamen vier verhüllte Gespenster hereingetrippelt und starrten ihn an durch ihre Schleier: Leichenwäscherinnen. Holden verließ das Zimmer und ging hinaus zu seinem Pferd. Gekommen war er in totem, erstickendem Dunst und durch fußtiefen Staub, jetzt schien der ganze Hofraum eine einzige Regenpfütze zu sein, belebt von Fröschen; ein gelber Wasserstrom lief unter dem Tor durch und ein heulender Wind jagte Güsse wie Flintensalven gegen die Lehmmauern. Pir Khan schauderte in seiner kleinen Hütte neben dem Eingang und das Pferd stampfte mit den Hufen in die Nässe.
»Ich habe die Befehle des Sahibs erhalten«, sagte Pir Khan. »Es ist gut. Das Haus ist jetzt verödet. Auch ich gehe, denn mein Affengesicht könnte Erinnerungen in dir wecken an das, was dahin ist. Was das Bett betrifft, so werde ich es in der Frühe in dein Haus hinüberbringen; aber bedenke, Sahib, es wird dir wie ein Messer sein, das in einer frischen Wunde wühlt. Ich gehe auf die Pilgerschaft, und ich nehme kein Geld von dir. Ich bin dick und fett geworden unter dem Schutz der Gegenwart dessen, dessen Leid auch mein Leid ist. Zum letztenmal halte ich jetzt seinen Steigbügel.«
Er berührte Holdens Fuß mit beiden Händen und das Pferd jagte hinaus auf die Landstraße, wo der hohe Bambus den Himmel peitschte und die Frösche quakten. Holden konnte wegen des Regens in seinem Gesicht kaum sehen. Er preßte die Hand vor die Augen und murmelte:
»O du Scheusal! O du grauenhaftes Scheusal!«
Die Nachricht von seinem Schicksalsschlag war ihm bereits vorausgeeilt in seinen Bungalow. Er las es in den Augen seines Dieners, Achmed Khan, als dieser ihm das Essen brachte; zum ersten- und letztenmal im Leben legte ihm der Mann die Hand auf die Schulter. »Iß, Sahib! Iß!« sagte er. »Essen ist das beste gegen Kummer. Ich hab's einst auch an mir erfahren. Die Schatten kommen und gehen, Sahib! Die Schatten kommen und gehen. Hier hast du Eier mit Pfeffer.«
Holden konnte weder essen, noch schlafen. Acht Zoll Regen schüttete der Himmel in dieser Nacht herab und wusch die Erde rein. Die Fluten rissen Mauern nieder, zerstörten die Straßen und wuschen die seichten Gräber der mohammedanischen