Montag oder Die Reise nach innen. Peter Schmidt

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Montag oder Die Reise nach innen - Peter Schmidt

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gelaufen, um schwankende Seelen zu frommer Gesinnung zu überreden.

      Beim Mittagessen saß ich schweigend und in Gedanken versunken am Tisch, um eine Lösung für mein Problem zu finden. Ohne das übliche Gefühl von Ekel übrigens, das mich sonst bei Fleischgerichten befiel. Es gab Hühnersuppe und danach das übliche Aas vom Schwein mit Dampfkochtopf-gegarten Möhren und Kartoffeln. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, bald ins Lager der Vegetarier überzuwechseln, machte mir Fleisch heute nichts aus …

      Die Lösung war wie jeder große Einfall einfach. Wenn Montag mir nicht folgte, würde eben ich ihm folgen! Wenn er mich nicht beachtete und durch mich hindurchblickte, würde ich ihn nur um so genauer beobachten.

      »Wieder bei irgendwelchen tiefgründigen Theorien über den wahren Ursprung des Universums, Marc?«, erkundigte sich meine Mutter.

      Meine Schwester lachte und beugte sich so weit vor, dass ich in ihren Ausschnitt sehen konnte. Sie wusste, wie sie auf mich wirkte, und nutzte das bei jeder Gelegenheit aus. Sie ließ mich meine menschliche Begrenztheit spüren, die Fesseln der Sexualität, die den aufrichtig strebenden Mönch versuchen und aus der Bahn werfen sollten. Anja hatte mein verdammtes Tagebuch aufgestöbert, ein billiges Notizheft, und der erste Satz darin, datiert zweieinhalb Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag, lautete, dass ich mich entschieden hatte, fortan der Sexualität zu entsagen, weil sie eine Irreführung des Intellekts sei.

      Ihre Gabel durchbohrte ein Stück Aas.

      »Er ist in der Pubertät«, erklärte sie mitleidig lächelnd und führte das aufgespießte Stück Aas an ihren sinnlichen Mund. »Er versucht mit seinen philosophischen Flausen der Geschlechtsreife zu entkommen. Aber niemand entkommt der Sexualität. Die Anziehung unter den Geschlechtern und der Beischlaf sind die stärksten Kräfte im Leben.«

      Stärker als die Gravitationskraft, dachte ich. Und mindestens genauso illusionär.

      »Ich bitte dich, Anja, nicht vor den Kindern«, sagte meine Mutter errötend. »Rolo ist erst elf, er ist noch zu jung für so was.« Sie war tatsächlich immer noch so prüde wie eine Matrone der fünfziger Jahre.

      Anja legte prustend ihre Gabel weg …

      Die Unschuld ist nichts, was uns in die Wiege gelegt wird, wie ein paar idealistische Träumer glauben. Und falls doch, so verlieren wir sie schon wenige Augenblicke nach der Geburt, wenn wir zum erstenmal an der Mutterbrust entdecken, dass wir hoffnungslos dem Geschmack am Leben verfallen sind.

      3

      Dass mich die Öffentlichkeit heutzutage in der Rolle des Modearztes sehen will, eines modernen Gurus, eines »weltlichen Priester« für alle Fragen und Lebensprobleme, einer Rolle, die mir kaum noch Zeit lässt, mich meinen Forschungen an der Universität zu widmen, verdanke ich wohl – will man nicht von Vorsehung reden – meinem damaligen Entschluss, diesem merkwürdigen Mann im Museum zu folgen – zu folgen in mehrfacher Hinsicht.

      Aber damals ahnte ich noch nichts von den Höhen und Tiefen, in die mich seine Bekanntschaft stürzen würde …

      Ich wartete ab, bis das Museum schloss, und folgte Montag langsam durch die menschenleeren Straßen.

      Er ging über die steinerne Brücke und dann durch eine sehr alte Gasse, die von den Bombenangriffen des Weltkriegs verschont geblieben war. Sein Haus war ein scheußliches Gebäude aus der Vorkriegszeit, in dem neunzehn Parteien lebten – mit so gleichmäßig geschwärzten Fassaden, dass man glauben konnte, die Patina sei seine ursprüngliche Farbe. Einige Zimmer seiner Wohnung lagen im Erkerturm.

      In Kopfhöhe an den Hauswänden befanden sich die üblichen Kreidesprüche, abgestuft nach Schulaltern. An ihnen ließ sich leicht die psychologische Theorie bestätigen, dass jedes Lebensalter seine eigene Sprache hat und über andere Dinge lacht. Und wenig verrät mehr über unsere Schwächen als das, worüber wir lachen!

      Lachen wir Älteren, die wir uns so viel auf unsere Erfahrungen und unseren Durchblick einbilden, dann sollten wir uns immer vergegenwärtigen, dass da vielleicht noch jemand über uns ist, der unser Lachen höchst lächerlich findet.

      Anfangs gelangte ich immer nur bis zur gegenüberliegenden Straßenseite. Ich beobachtete aus dem Hauseingang, wie in Montags Fenstern das Licht anging und wieder verlöschte. Ich wartete darauf, dass irgend etwas passierte, mir irgendein Zeichen, eine Bestätigung für meine Neugier gegeben wurde. Aber je nachdrücklicher ich darauf wartete, desto weniger geschah.

      Nun gut, es gab ein paar kuriose Zwischenfälle bei meinen Verfolgungen. Einmal leerte jemand aus dem Fenster seinen Nachttopf über Montag aus, wohl in der Annahme, er sei für den Lärm verantwortlich, den ein anderer mit einem verfrühten Silvesterfeuerwerk – es war kurz vor Weihnachten – in der Gasse veranstaltet hatte. Die Reste der Knallfrösche flogen bis in den Hauseingang.

      Montag blickte nur kurz nach oben, als habe er sich für die Notiz, die man von ihm nahm, zu bedanken, zog seinen Hut ab, klopfte ihn mit dem Handrücken zurecht, und ging weiter! Sein langer schwarzer Mantel glänzte feucht. Er war tatsächlich von oben bis unten mit Pisse begossen!

      Ein andermal hetzte jemand einen dieser Bullterrier auf ihn, die darauf abgerichtet sind, Menschen zu zerfleischen, gleichgültig, ob sie selbst dabei draufgehen oder nicht. Man rammt ihnen sein Taschenmesser in den Körper, schleudert sie hin und her, aber ihre Zähne lösen sich nicht eine Sekunde lang mehr von den Gliedmaßen, wenn sie sich einmal festgebissen haben.

      Wäre Montag einer jener Zauberer oder Medizinmänner vom Amazonas gewesen, die noch soviel Instinkt für die primitive Kreatur besitzen, dass sie mit ein paar ruhigen Worten und festem Blick jede Bestie in die Knie zwingen – ich hätte mich kaum über die Reaktion des Hundes gewundert. Aber dieser hier kam auf ihn zugelaufen, wurde zwei Meter vor ihm immer langsamer, ohne dass Montag ihn überhaupt eines Blickes würdigte, und drehte mit gesenktem Kopf und eingezogenem Stummelschwanz ab. Mich hätte die Bestie auf der Stelle in Stücke gerissen.

      Nach der Schule hielt ich mich so oft es ging im Museum auf.

      Mein Vater hatte sich einen Kompagnon zugelegt, einen in Geldfragen besonders gewieften Burschen aus dem New Yorker Bankenviertel namens Dornenvogel (kein Pseudonym – es war sein echter Name, und sein Einfluss auf unsere Familie wurde diesem Namen auch schon bald vollauf gerecht).

      Er war wegen Schwierigkeiten mit der amerikanischen Steuerfahndung nach Deutschland zurückgekehrt. Von da an hatte Oberhäuptling alle Hände voll zu tun, mit diesem schrägen Dornenvogel sein Vermögen zu sortieren. Und meine Mutter machte gerade eine schwere Zeit im Parlament durch, weil ihre winzige Ökologenfraktion von Politikern attackiert wurde, die in diesen ersten Ansätzen konsequenter Umweltpolitik Gefahren für die Wirtschaft sahen. Sie war immer noch der Rufer in der Wüste. Also hatte ich plötzlich genügend Zeit für mein Steckenpferd, Boschs Kuriositätensammlung …

      Ich entdeckte, dass sich der Maler im Weltgericht selbst porträtiert hatte: als fetter dickbäuchiger alter Gnom im Vordergrund des Bildes, nackt, mit schwarzem Kopftuch, schwarzen Stiefeln und einer klaffenden roten Wunde auf der rechten Seite des Unterbauchs.

      Er sah aus wie ein Demiurg, der das Inferno in seinem Geiste erst erschaffen hatte, anstatt es nur abzubilden, und so versuchte ich herauszufinden, warum er sich keinem freundlicheren Genre gewidmet hatte.

      Warum dieses Ausleben der aberwitzigsten, düstersten Phantasien, wenn es auch eine von der Sonne beschienene Wiese, ein unschuldiges Fohlen, ein Spaziergang am Meer, ein jungfräulicher Strand ohne Teufel und Chaoten hätte

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