Nesthäkchen fliegt aus dem Nest. Else Ury
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Trotzdem Annemarie ein sorglos unbekümmertes Temperament besaß, waren Mutters Worte doch nicht ganz wirkungslos an ihr abgeprallt. Sie war ja den Eltern heute so dankbar. Und aus diesem Empfinden heraus wollte sie gern jeden einzelnen so froh stimmen, wie sie es selbst war. Und ihre »Muzi« vor allem.
»Muzichen, ich gehe jetzt in die Küche und helfe der Hanne. Sie backt Pfannkuchen zum Geburtstagskaffee. Und das Roastbeef könnte ich auch heute mittag vielleicht machen«, schlug sie eifrig vor.
»Der Himmel bewahre uns in Gnaden!« Klaus faltete die Hände und blickte mit verdrehten Augen zur Stubendecke empor.
Auch Mutter machte ein bedenkliches Gesicht. Sie mochte den Geburtstagskuchen und den Braten nicht gern preisgeben.
»Lotte, heute ist wirklich kein Tag dazu, deine wirtschaftlichen Studien zu beginnen. Es können doch Gratulanten kommen. Wenn du in einem Jahr wieder daheim bist, dann magst du das Versäumte nachholen!«
Annemarie war durchaus einverstanden. Es war entschieden vergnüglicher, sich mit seinen Geschenken zu freuen, als »Küchenschnudel« zu spielen.
Bald kamen auch Gratulanten. Zuerst die Großmama. Die stand, nachdem sie sich all ihrer guten Wünsche, all der zärtlichen Kusse und des photographischen Kodakapparates, den Annemarie sich seit Jahren gewünscht, unter heller Begeisterung der Enkelin entledigt hatte, kopfschüttelnd vor dem Geburtstagstisch.
»Was bedeutet denn diese geheimnisvolle Inschrift?« Sie schaute durch die Lorgnette fragend auf Klaus' Kunstprodukt.
»Geheimnisvoll – das ist doch klar wie Kloßbrühe, Großmuttchen. In acht Tagen geht's nach Tübingen auf die Universität – juchhu!« Annemaries lauter Juchzer ließ die alte Dame erschreckt zusammenfahren.
»Wa–as?« Großmama traute ihren Ohren nicht. »Fortgeben wollt ihr euer Kind, Elsbeth?« Mit verständnislosem Gesicht wandte sie sich an die Tochter.
»Ja, was sollen wir machen? Das Mädel gibt ja keine Ruhe. Nun mag sie mal sehen, wie es ihr anderswo gefällt. Leicht wird es uns nicht, unser Nesthäkchen fortzulassen«, setzte Frau Doktor Braun leiser hinzu.
»Ich verstehe euch nicht. Ein Mädchen gehört ins Elternhaus. So war's zu meiner Zeit Sitte. Und das war eine gute Sitte. Nicht genug, daß unser Kind studieren soll, nun noch gar auf einer andern Universität wie ein Student. Was sind das für Zeiten!« Großmamas mißbilligendes Kopfschütteln galt aber weniger den schlechter gewordenen Zeiten als der bevorstehenden Trennung von ihrem Herzblatt.
»Großmuttchen, du kannst dich mit unserer Hanne zusammentun. Die räsoniert auch schon den ganzen Morgen, daß ich fort will. Knapp, daß sie mir zum Geburtstag gratuliert hat, so fuchtig ist sie.«
»Recht hat sie, die treue Seele. Solch schlichter Geist empfindet oft das Richtige.« Großmama furchte die Stirn, und selbst der Enkelin zärtliche Finger vermochten die Falten nicht ganz fortzustreicheln.
Noch eine schloß sich der »Gegenpartei«, Großmamas und Hannes ablehnender Kritik, an. Das war Großmamas Schwester, Tante Albertinchen mit den Pudellöckchen. Die war die dritte im Bunde. Ihre weißen Löckchen wippten vor Erregung über jedem Ohr auf und nieder. Nein, wie konnte ihre Nichte Elsbeth nur dazu ihre Einwilligung geben!
Das »Kind« schutzlos allein in der großen Welt – was für Gefahren lauerten da auf Schritt und Tritt. Tante Albertinchen zog bereits ihr Taschentuch hervor, um ihrem armen Großnichtchen, das von den Eltern unbegreiflicherweise ins sichere Verderben hinausgelassen wurde, einige Tränen zu zollen.
Es kamen aber auch Gratulanten, die Annemaries Jubel durchaus begreiflich fanden und freudig darin einstimmten. Das waren natürlich in erster Linie die beiden Reisegenossinnen Marlene und Ilse. Die blonde Ilse brach ebenfalls, als Annemarie sie ohne weitere Erklärung vor das inhaltsvolle Plakat führte, in begeistertes »Hurra!« aus. Ihre Cousine und Busenfreundin Marlene, die bei weitem ruhigere, aber umschlang Annemarie und sagte aus vollem Herzen: »Au fein!«
»Heute in acht Tagen sind wir schon unterwegs. In Stuttgart sollen wir Station machen, meint mein Vater. In einer Tour sei die Reise zu anstrengend. Kinder, ich freue mich ja diebisch.« Ilse küsste abwechselnd Annemarie und Marlene.
»Mir auch einen!« Klaus steckte seinen Kopf dazwischen.
Er erhielt aber nur einen Nasenstüber. Der Student stand mit sämtlichen Freundinnen der Schwester auf Neckfuß und duzte sich mit ihnen noch aus der Kinderzeit. Annemarie behauptete sogar boshafterweise, daß er in eine nach der andern verschossen gewesen sei, immer abwechselnd. Aber wenn die Reihe um war, kehrte sein leicht entzündbares Studentenherz doch immer wieder zu Ilse Hermann zurück.
Marianne Davis, die ebenfalls mit den drei Mädeln zusammen das Gymnasium besucht hatte, sah mit geteilten Gefühlen die Zukunftsfreude der drei Glücklichen. Ihr rundes Gesicht unter dem Braunhaar blickte wie der Apriltag draußen herein. Halb Regen, halb Sonnenschein. Sie gönnte ja den Freundinnen das gemeinsame Studienjahr in Tübingen – aber freilich! – nur – nur – sie wäre eben auch gar zu gern dabei gewesen. Ihre Eltern hatten nichts davon wissen wollen, Marianne studieren zu lassen. Chemische Laborantin sollte sie werden, dazu brauchte sie nur eine anderthalbjährige fachgemäße Ausbildung. Bis jetzt war Marianne mit diesen Zukunftsplänen auch durchaus einverstanden gewesen. Nur heute, da die andern drei die Schwingen regten zum selbständigen Flug in die Welt hinein, kam sie sich wie ein im Bauer gefangenes Vögelchen vor.
Dabei blieben doch die beiden Kränzchenschwestern Margot Thielen und Vera Burkhard ebenfalls daheim. Margot, die in demselben Hause mit Brauns wohnte, konnte den Jubel der Freundinnen gar nicht begreifen. O Gott, schrecklich wäre es ihr, wenn sie ohne Vater und Mutter allein in eine fremde Stadt müßte. Totgraulen würde sie sich. Wie konnte die Annemarie sich nur so freuen!
Vera Burkhard, Annemaries Intima, hatte die Freundin nur schweigend geküsst. Dann hatte sie sich schnell zum Fenster gewandt, damit Annemarie es nicht merken sollte, daß ihr die bevorstehende Trennung Tränen in die Augen trieb. Annemarie aber brauchte die glänzenden Tropfen an den langen schwarzen Wimpern der Freundin nicht zu sehen. Die empfand es auch ohnedies, daß Vera betrübt war.
»Verachen, ein Jahr ist ja gar nicht lang. Und wir schreiben uns oft. Denke mal, wie fein das sein wird, wenn ein dicker Brief aus Tübingen kommt. Marlene, Ilse und ich, wir schreiben immer abwechselnd, ja? Und du schickst mir photographische Aufnahmen, damit ich sehe, was für Fortschritte du in deiner Kunst machst. Wenn ich wiederkomme, hast du vielleicht schon ein eigenes Atelier.« So versuchte Annemarie die Freundin aufzuheitern.
Veras zartes Gesicht aber sah noch bleicher aus als gewöhnlich. »Ein ganzerr Jahrr ist schrecklich lang fürr mirr«, gab sie mit unterdrücktem Seufzer zurück. Die in Polen Gebürtige stand mit der deutschen Sprache, trotzdem sie schon jahrelang eine deutsche Schule besucht hatte, und trotzdem Annemarie Braun ihr selbst Nachhilfestunden erteilt hatte, immer noch auf Kriegsfuß.
»Wir sind die acht Tage bis zu meiner Abreise noch recht viel zusammen, Verachen. Du mußt dich für meine einstigen deutschen Lektionen revanchieren und mir Unterricht in der Handhabung meines neuen Kodaks von Großmama erteilen. Dann schicke ich dir von jedem Ort, den ich kennenlerne, Aufnahmen.« Annemaries munterem Geplauder konnte Veras niedergedrückte Stimmung nicht standhalten. Den Rest derselben tilgten die lustigen Späße der Brüder und die Berge von Pfannkuchen, die ihr vom Kaffeetisch entgegenlächelten.
Abends bei der Maibowle, die man dem Wonnemonat vorwegnahm, stieß man klingend auf das Studienjahr der drei