Nesthäkchen fliegt aus dem Nest. Else Ury

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Nesthäkchen fliegt aus dem Nest - Else Ury

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in Würzburg?« fragte sie den Kellner, eingedenk, daß Hans von seiner Studienreise einst erzählt hatte, jede Stadt habe ihre besonderen Gerichte.

      »Ja, unsere Spezialität hier ischt Pfannkuche«, lautete die Antwort.

      »Na, dann bringen Sie mir mal Pfannkuchen«, bestellte Annemarie, trotzdem sie dieselben eigentlich zum Kaffee oder Silvesterpunsch geeigneter fand als zum Abendessen. Aber wie angenehm war sie enttäuscht, als der Kellner mit einem prächtigen Eierkuchen erschien. Also das nannte man hierzulande Pfannkuchen. Sie wollte es sich merken.

      »Was trinkt man denn hier?« Annemarie wollte durchaus stilgerecht in Würzburg speisen.

      »Halt a Moscht«, schlug der Kellner vor.

      »Moscht – was ist denn das?«

      »Moscht ischt halt Moscht«, erklärte der Kellner überzeugungsvoll.

      Aber als sie dann das apfelweinsäuerliche Getränk kostete, stieß das Naturkind ein vernehmliches »Pfui, Deixel!« hervor.

      Sie begann mit dem Kellner eine Unterhaltung.

      »Ist das der Neckar?« fragte sie, auf den Fluß weisend.

      »Aber nimmer – das ischt halt unser Main.«

      »Bald gras' i am Neckar, bald gras' i am Main«, begann Annemarie unbekümmert zu summen.

      »Sie sein halt nit von hier?« Der Mann konnte sich gar nicht beruhigen, daß man das nicht wußte.

      »Nee«, machte Nesthäkchen im echten Berliner Dialekt, und begann sich nun doch etwas seiner Unbildung zu schämen. Trotz Abiturientenexamens hatte Geographie niemals zu Annemaries stärkster Seite gehört. Der Kellner würde es ihr wohl nicht weiter verübeln, und der einsame Gast, der dort hinter den Fliederbüschen saß, war in seine Zeitung vertieft.

      »Bleiben's hier bei uns in Würzburg?« Der Kellner fühlte sich jetzt verpflichtet, die hübsche junge Dame zu unterhalten.

      »Nee, ich fahre morgen nach Stuttgart und dann weiter nach Tübingen.«

      »Ach, nach Stuckart wollen's? Da kenn' i mich auch aus. Da hab' i halt auch mal konditschoniert.«

      »Wo speist man denn da am besten?« erkundigte sich Annemarie, welcher der Eierkuchen mundete.

      »In Stuckart allemal am beschten im ›Elefant‹.«

      »Danke vielmals.« Annemarie zog ein kleines Notizbüchlein aus dem Täschchen und schrieb sich den Elefanten auf. Wie würden sich Marlene und Ilse freuen, wenn sie ihnen ein so gutes Lokal empfehlen konnte.

      Der Herr hinter der Fliederhecke war schon lange aufmerksam geworden. Nur zum Schein hatte er die Zeitung noch vor dem Gesicht, um umso unauffälliger dem Gespräch lauschen zu können. Jetzt erhob er sich mit plötzlichem Entschluss.

      »Gnädiges Fräulein, der Stuttgarter ›Elefant‹ mag ja ganz gut sein, aber für junge Damen ist das sicher nit der geeignete Aufenthaltsort. Ich bin halt aus Stuttgart und weiß dort Bescheid«, mischte er sich plötzlich in die Unterhaltung.

      Annemarie blickte überrascht hoch. Es dämmerte bereits; aber – war das nicht ... die braunen Haare, die grauen Augen, das schmale Gesicht ... natürlich, das war ja der fremde Herr vom Bahnhof, den sie hatte abfallen lassen. Nun hatte sie sich schon wieder vor ihm blamiert. Wie peinlich, daß sie den Main mit dem Neckar verwechselt hatte!

      »Danke sehr für Ihren Rat«, sagte sie möglichst von oben herab, »ob ich ihn befolgen werde, weiß ich noch nicht.«

      »Verzeihung, wenn ich halt zudringlich gewesen bin.« Der Fremde zog sich wieder an seinen Tisch zurück.

      Zum zweiten mal abgeblitzt. – Nesthäkchen vermochte sich seines Triumphes nicht zu freuen. Es wurde Annemarie unbehaglich in dem idyllischen Mainlokal. Mußte der Fremde auch gerade wieder ihren Weg kreuzen! Sie zahlte und erhob sich, ohne noch einen Blick durch die Fliederhecke zum Nachbartisch zu werfen.

      Am Main war es noch einigermaßen hell. Aber als Annemarie jetzt eine stadtwärts führende Straße einschlug, machte sich die hereinbrechende Nacht doch schon stark bemerkbar. Wie unvorsichtig von ihr, so lange da draußen zu sitzen. Wenn sie sich nun in der fremden Stadt nicht zurechtfand; wenn sie im Dunkeln ihren Gasthof nicht wiedererkannte! Sollte sie zurückgehen und den fremden Herrn bitten, ihr den Weg zu weisen? Er hatte unbedingt etwas Vertrauenerweckendes in seinen Augen, und hatte es ihr doch selbst angeboten, ihr behilflich zu sein. Aber nein – nein – sie hatte sich doch zu abweisend ihm gegenüber benommen. Wie konnte sie sich jetzt mit einer Bitte an ihn wenden!

      Schritte hallten hinter ihr her. Doktors sonst so keckes Nesthäkchen beschleunigte den seinigen. Es war ihm recht unbehaglich in der fremden, dunklen Stadt. Es lief in irgendeiner Richtung, ohne jede Überlegung. Ach, wäre es doch jetzt in Stuttgart bei Marlene und Ilse.

      Die Häuser hörten auf. Anlagen kamen. Du mein Himmel, sie hatte sich ja gründlich verlaufen! Wie fand sie bloß in die Stadt zurück? Immer noch klangen die Schritte hinter ihr und jagten sie vorwärts. Und jetzt Gesang und Gelächter – es kam ihr entgegen; junge, vergnügte Burschen zogen durch die laue Frühlingsnacht.

      Das Lachen und Singen näherte sich. Herzklopfend blieb Annemarie stehen. Sie galt doch sonst für so unverfroren, wo war nur Nesthäkchens kecker Mut hin? Hatten Großmama und Tante Albertinchen nicht recht, daß ein junges Mädchen daheim ins Elternhaus gehörte? Sie hatte diese Ansichten heimlich als altmodisch verspottet.

      Wohin wollte sie? Vorwärts oder zurück? Während Annemarie noch überlegte, hatten die Schritte, die den ganzen Weg über hinter ihr gedröhnt, sie eingeholt. Es war bereits zu dunkel, um den Herankommenden zu erkennen. Aber als er zu sprechen begann, wußte Annemarie, daß es der Herr vom Bahnhof und aus dem »Weißen Lamm« war. Das beruhigte sie sehr.

      »Ich bitte um Entschuldigung, gnädiges Fräulein, wenn ich trotz der deutlichen Abweisung es wage, Ihnen meine Gesellschaft aufzudrängen. Sie sind fremd hier, ohne Schutz – ich habe halt selbst eine junge Schwester und möcht' sie nit in ähnlicher Lage wissen.« Das klang so echt und menschenfreundlich, daß auch die letzte Scheu und Beklommenheit bei Annemarie schwand. Ein wohliges Gefühl des Geborgenseins kam ihr, während die singenden Burschen an ihnen vorbeizogen.

      Sie reichte ihm dankbar die Hand.

      »Ich danke Ihnen für Ihre große Freundlichkeit – die ich eigentlich gar nicht verdient habe«, setzte sie ehrlich hinzu. Das war wieder die offene, unbefangene Art, durch die Doktors Nesthäkchen sich allenthalben Freunde errang. Auch der Fremde war angenehm davon berührt.

      »Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstell', mein Name ist Hartenstein – Rudolf Hartenstein.«

      Mußte sie jetzt auch ihren Namen nennen? In der Tanzstunde hatten sie Anstandslehre gehabt, aber dieser Fall war nicht vorgesehen. Wie meistens handelte Nesthäkchen aus ihrem Gefühl heraus, und das sagte ihr, daß sie diesem geraden, ungezwungenen Entgegenkommen des Fremden in gleicher Weise begegnen müsse. So nannte auch sie ihren Namen und erzählte, daß sie auf dem Wege nach Tübingen sei, um dort Medizin zu studieren.

      »Ach, nach Tübingen! Dort studiert meine Schwester ebenfalls.«

      »Auch Medizin?« Annemarie rief es in lebhafter Freude. Wie schön, wenn sie dort gleich Anschluß fanden an jemand, der bereits eingebürgert

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