Nesthäkchen fliegt aus dem Nest. Else Ury
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Читать онлайн книгу Nesthäkchen fliegt aus dem Nest - Else Ury страница 6
»Annemie – – –« ein entsetzter Doppelschrei von irgendeinem Fenster her. Dann sah die hinter dem Zuge Herlaufende nur noch die schwarze Rauchfahne.
Annemarie blieb mit ziemlich verdutztem Gesicht stehen, und dann brach sie plötzlich in helles Lachen aus. Nein, war das komisch! Sie konnte sich gar nicht beruhigen.
Ein Herr, der einen Freund zur Bahn begleitet hatte, wandte sich ihr zu. Er hatte das Intermezzo beobachtet. Aber daß jemand in solchem Falle lachte, anstatt sich darüber zu ärgern, das war ihm doch noch nicht vorgekommen.
»Ein unfreiwilliger Aufenthalt, gnädiges Fräulein«, meinte er lächelnd. »Aber es lohnt sich halt, dem schönen Würzburg einen Besuch abzustatten.«
»Ich fahre gleich mit dem nächsten Zug hinterdrein nach Stuttgart.« Das war wieder ganz Doktors leichtsinniges Nesthäkchen.
»Damit werden's heut' nimmer Glück haben, gnädiges Fräulein. Der nächste Zug nach Stuttgart geht nit vor morgen früh gegen sechs Uhr.«
»Wa–as?« Nun bekam die junge Dame doch einen Schreck. »Aber das ist ja gar nicht möglich. Ich werde mal den Stationsvorsteher fragen.«
»Das haben Sie nit nötig. Ich bin Stuttgarter und fahre die Strecke öfters.«
Trotzdem wandte sich Annemarie, Auskunft erbittend, an den Mann mit der roten Mütze. Es stimmte. Der nächste Zug ging erst am andern Morgen.
»Na, das ist ja eine nette Geschichte!« Die Komik der Situation begann allmählich dem Ernst derselben zu weichen. »Was mache ich denn nun bloß? All meine Sachen sind im Zuge bei meinen Freundinnen.«
»So sind dieselben wenigstens nit verloren. Wenn ich halt irgendwie inzwischen aushelfen kann, gnädiges Fräulein –.« Der fremde Herr griff nach seiner Brieftasche. Das reizende junge Mädchen sah nicht wie eine Hochstaplerin aus. Er hätte ihr jede Summe anvertraut.
»Danke vielmals. Aber mit Geld bin ich genügend versehen.« Sie hatte ja ihr Geldtäschchen zum Glück in der Hand. Und zum Überfluss noch das Lederbeutelchen mit den größeren Geldscheinen an einem Bande unter der Bluse. Gleich darauf biß sich Annemarie auf die Lippen. Mutti hatte recht, sie war wirklich unvorsichtig. Man sagte doch einem fremden Menschen nicht, daß man Geld hatte. Er konnte sie doch bestehlen.
Wie ein Dieb sah der Fremde aber eigentlich nicht aus. Es war ein noch junger, gutgekleideter Herr mit braunem Haar. Seine grauen Augen hinter dem Kneifer blickten vertrauenerweckend. Trotzdem nahm sich Nesthäkchen vor, auf der Hut zu sein.
Der Stationsvorsteher hatte sich bereits entfernt. Auch Annemarie wandte sich mit kurzem Kopfneigen gegen den Fremden zum Gehen. Nun bekam sie doch noch Würzburg zu sehen.
Aber mit einigen Schritten hatte der fremde Herr sie wieder eingeholt.
»Gnädiges Fräulein, wenn ich Ihnen am End' sonst irgendwie hier in der fremden Stadt behilflich sein kann, so steh' ich Ihnen herzlich gern zur Verfügung.« Er hatte eine freie, sympathische Art und sprach den einem norddeutschen Ohr so gemütlich klingenden süddeutschen Dialekt.
Aber Nesthäkchen wollte nicht wieder unbesonnen sein. Nicht umsonst hatte Mutti sie vor fremden Menschen gewarnt.
»Danke – ich kann mir allein helfen.« Das klang ziemlich abweisend unter der gefaßten Vornahme. Gar nicht so liebenswürdig, wie das sonst Annemaries Wesen entsprach.
Der Fremde zog den Hut und schritt davon.
Hatte sie ihn beleidigt? Das war nicht ihre Absicht gewesen, wo er sich ihr gegenüber doch immerhin freundlich gezeigt hatte. Na, deshalb machte sich Nesthäkchen kein unnötiges Kopfzerbrechen. Wahrscheinlich würde es den Betreffenden im ganzen Leben nicht wieder zu sehen bekommen.
Nun mal erst ein Hotelzimmer, daß sie ihr müdes Haupt heute Abend betten konnte. Und dann auf den Stadtbummel. Morgen lachte sie Marlene und Ilse aus, daß sie die schöne Barockstadt nun doch zu sehen bekommen hatte.
Vorläufig aber lachte Annemarie nicht. Denn es war nicht so einfach, ein Zimmer in einem der Hotels zu bekommen. Weder auf dem großen Platz hinter dem Bahnhof noch in der Kaiserstraße, die in das Stadtinnere führte. Hotel neben Hotel, Annemarie lief kreuz und quer – überall besetzt. Nirgends ein Zimmer frei. Die erste Frage lautete stets: »Haben Sie Zimmer bestellt?« Und wenn das junge Mädchen dann wahrheitsgemäß verneinte, zuckte der Herr Geschäftsführer die Achsel. Wie konnte man auch in heutiger Zeit annehmen, daß man unangemeldet ein freies Zimmer finden könnte. Ja, mancher sah sie sogar mißtrauisch an, weil sie kein Gepäck bei sich hatte. Wäre es nicht doch vielleicht besser gewesen, die freundliche Hilfsbereitschaft des fremden Herrn, der hier Bescheid wußte, anzunehmen?
Nun war es zu spät dazu. Man mußte anderweitig Rat schaffen. In den Bahnhofsanlagen zu kampieren, dazu waren die Nächte noch zu kühl. Und auch zu unheimlich war's dort. Der Wartesaal erschien ihr auch nicht sehr einladend. Annemarie sehnte sich nach der langen Bahnfahrt danach, die Glieder heute Abend in einem Bett auszustrecken. Ob sie es dort drüben an der Ecke noch mal versuchte? Sehr vertrauenerweckend sah der Gasthof zum »Bunten Hahn« nicht aus. Ziemlich schmutzig, eine Unterkunft zweiten, wenn nicht gar dritten Ranges. Aber immerhin besser als gar nichts. Die ebenfalls recht verwahrlost ausschauende Wirtin führte das junge Mädchen über eine verbaute Stiege in ein kleines Zimmer nach dem Hof heraus. Dasselbe war kaum notdürftig möbliert. Die Bettüberzeuge rot und weiß gewürfelt.
Unmöglich – das war Nesthäkchens erster Gedanke. Hier würde nicht mal Hanne schlafen. Aber der zweite Gedanke sagte: Besser als gar nichts. Gegen ihre sonstige Gewohnheit folgte Annemarie nicht sogleich dem ersten Impuls, sondern überlegte. Und das Resultat dieser Überlegung war, daß sie blieb.
Schnell sich mit Wasser und Seife ein bißchen erfrischen – ach Gott, Seife! Die reiste ja mit ihrem Reisenecessaire augenblicklich nach Stuttgart. Na, es gab ja hier genug Geschäfte, wo sie die notwendigsten Toilettengegenstände erstehen konnte. Nur flink, daß sie noch vor Dunkelheit etwas von Würzburg zu sehen bekam. Vor allem das Schloß, das ein besonders schöner Barockbau sein sollte. Sonst hieß es sicher, sie sei in Rom gewesen und habe den Papst nicht gesehen.
Eine halbe Stunde später sah man Doktor Brauns Nesthäkchen frohgemut durch die Straßen von Würzburg schlendern. Annemaries glückliches Naturell hatte sie das kleine Reisemissgeschick schon längst vergessen lassen. Sie war ihrem guten Stern dankbar, der sie in den schönen, alten Schlossgarten mit den verschnörkelten Wegen und all den Barockfiguren, von hellem Frühlingsgrün umsponnen, geführt hatte. Auf einer Steinbank sitzend, schmauste sie abwechselnd Backwerk und Apfelsinen, die sie unterwegs gekauft, lauschte sorglos dem Gezwitscher der Vögel und dachte mit keinem Gedanken daran, daß Marlene und Ilse sich um ihren Verbleib sicher Sorgen machen würden.
Dann ging es zur Universität, denn das war sie ihrer Würde als Studentin doch schuldig. Aus den Hofgärten der alten Häuser zu Würzburg duftete fast überall blühender Flieder. Blau, weiß, rot – ein schier endloses Blühen und Duften. Immer weiter schritt Annemarie in den herrlichen Frühlingsabend hinein. Ihr war so leicht, so frei zumute wie dem Vogel in der Luft. Jetzt stand sie an einem breiten Fluß. Nachen und Flöße zogen auf demselben dahin, lichtgrüne Hügelketten besäumten das jenseitige Ufer. Und über das ganze Bild stülpte sich, durchsichtig wie eine Glasglocke, zartviolett abgetönter Abendhimmel. War das schön!
Ein Gartenrestaurant, ganz versteckt unter Fliederbüschen, von dem aus man den Blick über den Strom hatte, lockte Annemarie. Sie hatte rechtschaffenen Hunger, und in ihrem wenig einladenden