Nesthäkchen fliegt aus dem Nest. Else Ury

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Nesthäkchen fliegt aus dem Nest - Else Ury

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zu lassen. Margot Thielen, die ausrief: »Kinder, mir könntet ihr Gott weiß was versprechen, daß ich mit sollte. Gottlob, daß ich hier auf der Kunstgewerbeschule bin und nicht von Haus fort muß!« gewann die ganze Sympathie des alten Tantchens. Das war doch noch ein vernünftiges Mädchen, nach gutem, altem Stil, von den modernen Freiheitsgelüsten der heutigen Jugend nicht angekränkelt.

      Annemarie aber rief lachend: »Natürlich, Tugendschäfchen muß in seinem Stall bleiben! Da draußen in der Welt könnte der böse Wolf kommen und es fressen.«

      »Ja, Tugendschäfchen weidet auf der Heimatflur.«

      »Die Welt draußen ist zu klein für solch ein Übermaß von Tugend!« – Auch Marlene und Ilse beteiligten sich an Annemaries Foppereien.

      »Tugendschäfchen« – diesen Beinamen hatten die ausgelassenen Backfische dereinst der braven Margot zugelegt, und sie hatte denselben auch stets mit Humor ertragen. Heute aber in Gegenwart von Annemaries Verwandten war Margot dieser Ehrentitel doch ziemlich peinlich. Großmama, welche die Verlegenheit des jungen Mädchens gewahrte, meinte mit liebenswürdigem Takt: »Ich wünschte, Annemariechen, du wärst auch solch ein Tugendschäfchen, dann behielten wir dich hier!«

      »Zu meinem nächsten Geburtstag bin ich wieder da, Großmuttchen, schon wegen der Geschenke«, tröstete die Enkelin sie.

      »Wer weiß, wer da noch lebt«, lächelte die Großmama.

      Auch Tante Albertinchen nickte wehmütig vor sich hin, als gelte es einen Abschied für immer von Doktors Nesthäkchen. Und ihre Pudellöckchen nickten wehmütig mit.

      Nesthäkchens neunzehnter Geburtstag, der von einschneidender Bedeutung für ihr Leben geworden war, ging vorüber wie jeder andere Tag. Und die Woche, die nun folgte, ging noch viel schneller dahin. Denn solch eine Reisewoche hat unzählige Beine. Man weiß vor lauter Einkäufen und Vorbereitungen nicht, wo sie geblieben.

      Ehe man sich's versah, kam der Tag heran, wo Doktors Nesthäkchen aus dem heimatlichen Nest fliegen sollte.

      2. Kapitel

      Eine Reise mit Hindernissen

      Ein Sonnentag war's – hell und strahlend. Aber die junge Reisende blickte unter dem neuen Reisehütchen gar nicht so strahlend wie sonst in die Welt. Die stand in ihrem Mädchenzimmer mit den hübschen weißen Möbeln und schaute auf jedes Stück, die Zeugen ihrer fröhlichen Kinder- und Backfischzeit, als ob sie sich gar nicht davon trennen könnte. Würde die Minna auch ihre süßen kleinen Kakteenpflänzchen, siebenundvierzig waren es jetzt schon an der Zahl, richtig pflegen? Und die Primelchen alle zwischen den Doppelfenstern? Mätzchen würde gewiß suchend das zitronengelbe Köpfchen nach ihr drehen, wenn eine andere Hand ihm Trink- und Badewasser in das Bauer schob. Und Puck? Als ob das kluge Tier wußte, daß Doktors Nesthäkchen heute dem Vaterhause ade sagen wollte, folgte es ihm auf Schritt und Tritt schwanzwedelnd. Annemarie beugte sich zu dem Gefährten ihrer lustigen Kindheitsspiele zärtlich herab und packte ihn bei den langhaarigen Ohren.

      »Geliebte Hundetöle, so schwer wird es dir, mich fortzulassen?« Ein glänzender Tropfen aus blauen Mädchenaugen fiel höchst unnötigerweise auf die schwarze Hundeschnauze.

      Sie war doch schon mal ein Jahr in der Fremde gewesen. Vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war und nach überstandener Krankheit zur völligen Kräftigung in das Kinderheim an der Nordsee geschickt wurde. Da war ihr die Trennung doch lange nicht so schwer geworden.

      »Lotte – es ist Zeit, wir müssen gehen.« Mutters Stimme ertönte mahnend aus dem Nebenzimmer.

      »Die Droschke ist da!« meldete Minna und belud sich mit dem Handgepäck des jungen Fräuleins.

      Mit einem Blick umfaßte Doktors Nesthäkchen zum ihr kleines Reich, den Nähtisch der Mutter drin im Wohnzimmer, schnell durch die Türspalte noch einmal in Vaters Sprechzimmer gelugt, dann wandte Annemarie den Kopf nicht mehr zurück. Vorwärts ging es nun, dem neuen buntwinkenden Studentenleben entgegen.

      Unten vor dem Vorgarten, der sich Nesthäkchen zu Ehren mit seinen schönsten Mandelblüten besteckt hatte, standen sie alle abschiedbereit: Piefke, der Portier, der den neuen Geburtstagskoffer soeben aufgeladen. Sein Junge, Maxeken, Nesthäkchens einstiges Pflegekind, mit neugierigem Gesicht. Minna, sich die nassen Augen mit dem Handrücken wischend, und Hanne mit einer so bärbeißigen Miene, als ob sie der ganzen Welt an den Kragen wollte.

      »Leben Sie wohl, Hanne, und wenn ich wiederkomme, gehe ich bei Ihnen ins Kolleg!« Nesthäkchen scherzte schon wieder.

      »Kollegin brauchste nich von mich zu werden, Annemiechen. Aber das sag' ich dich, mit das Dusagen hat das nu 'n Ende. Wenn de von de Unversität wieda nach Hause kommen tust, denn biste vor mir ›Sie‹ und ›Fräulein‹.« Geradezu wütend sah Hannes breites Gesicht drein.

      »Das überleb' ich nicht, Hanne«, lachte Annemarie. Allen Abschiedsschmerz hatte Hannes Drohung verscheucht.

      Da zog der Droschkengaul an. – »Auf Wiedersehen! – Auf Wiedersehen!« – – – »Und komm auch nich abends von de Kneipe so anjesäuselt nach Hause, wie das unser Herr Klaus manchmal jemacht hat!« rief Hanne noch vorsorglich hinter Annemarie drein.

      Die lachte Tränen. Auf den Balkonen und an den Fenstern aber reckte man die Köpfe hinter der durch die Straße ratternden Droschke her. Nanu – Doktors Nesthäkchen war ja unglaublich fidel, daß es von Hause fortging!

      Wenn die lieben Nachbarn allerdings gesehen hätten, wie Annemarie während der Fahrt die Hand der Mutter nicht aus der ihren ließ, wie sie sich auf dem Bahnhof die Augen ausschaute, ob der Vater, der in aller Herrgottsfrühe zu einem Schwerkranken gerufen worden war, es auch noch erreichte, um seiner Lotte den Abschiedskuss zu geben, dann hätten die lieben Nachbarn doch vielleicht gemerkt, daß Doktors Nesthäkchen der Abschied nicht gar so leicht wurde.

      Aber sie ließ es sich nicht merken, daß in der Kehle ein Tränenkloß jeden Augenblick wie ein Wasserfall sich zu ergießen drohte. Das Heulen überließ sie Ilse Hermann, die abwechselnd Trost suchte in den Armen der Eltern und der älteren Schwester Lisbeth.

      »Ilschen, es gibt hier auf dem Anhalter Bahnhof eine Überschwemmung.« Alle Aufmunterungsversuche Annemaries verfingen nicht. Erst als Hans und Klaus auf der Bildfläche erschienen, schämte sie sich ihres zur Schau getragenen Abschiedsschmerzes.

      Marlene biß die Zähne zusammen, damit nur keiner merkte, daß es ihr ebenfalls naheging. Die Annemarie hatte doch ein glückliches Temperament, daß sie selbst jetzt noch scherzen konnte. Nicht mal die Freundinnen merkten, daß Annemaries zur Schau getragene Heiterkeit Galgenhumor war.

      Nur die Mutter kannte ihr Nesthäkchen. Die war gar nicht weiter davon überrascht, daß ihre eben noch lachende Lotte, als das Signal zum Einsteigen ertönte, ganz plötzlich in einen Tränenstrom ausbrach.

      »Noch kannst du hierbleiben, Lotte!« Doktor Braun hatte es doch nicht gedacht, daß es ihm so schwerfallen würde, sein Nesthäkchen fortzulassen.

      »Nein – nein – ich freue mich ja so schrecklich – – –.«

      »Daß ich vor lauter Entzücken in Freudentränen ausbreche«, neckte Marianne Davis. Denn die Freundinnen waren natürlich vollzählig als Ehrengeleit erschienen. Vera streichelte fortwährend Annemaries Hand. »Denk an mirr – behalt' mirr in Liebe.« Margot weinte zur Gesellschaft mit den andern mit.

      Nun

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