Nesthäkchen fliegt aus dem Nest. Else Ury
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»Aber Muzi, mach' mich doch nicht vor allen Leuten hier schlecht«, begehrte Annemarie schon wieder lachend auf.
»Ilse und ich werden unser Nesthäkchen schon gut bewachen, Frau Doktor«, versprach Marlene.
»Erlaube mal, Ilse ist überhaupt jünger als ich – – –.«
»Und nimm dich mit fremden Leuten in acht, Kind, du bist so vertrauensselig. Und daß du nicht kalt trinkst, wenn du erhitzt bist und – – –.« Mutter kam mit ihren vorsorglichen Befürchtungen, von denen sie noch ein ganzes Dutzend auf Lager hatte, nicht weiter, denn der Zug setzte sich in Bewegung.
»Nun lernt in Tübingen fleißig Bierjungen trinken. Wenn wir uns wiedersehen, müßt ihr das Gesicht voller Schmisse haben«, rief Hans, um die Abschiedsstimmung zu heben, den dreien nach.
»Und vergeßt das eine nicht – das allerwichtigste: Rollmops ist gut gegen 'nen Kater!« Das war natürlich der unverbesserliche Klaus.
Wie Sonnenregen ging es da über die drei betrübten Mädchengesichter. Mit wieder lachenden Augen ließen die beiden Blonden und die Schwarze ihr Tüchlein zu ihren Lieben zurückwehen.
»Annemarie, wir sind gleich in Jüterbog.« Marlene, eingedenk ihres Ehrenamtes als Vernünftigste, zog die immer noch aus dem Fenster winkende Annemarie, die behauptete, ihre Mutter noch ganz deutlich erkennen zu können, auf ihren Platz.
»Wem du da zuwinkst, das ist irgendein Gepäckträger –.« »Ach wo, die Signalstange ist es überhaupt?« lachte Ilse.
Ihr glücklichen neunzehn Jahre, wo Abschiedstränen noch so rasch trocknen!
Durch sprießende Saaten, durch blauschwarze Kieferwaldungen, schüchtern mit zartgrünen Birkenbäumchen besäumt, fuhren die im Lenz des Lebens stehenden drei dem erwachenden Frühling entgegen. Je weiter sie nach Süden kamen, um so wonniger wurde das Blühen da draußen. Weimar, die Stadt der Musen, grüßte die drei Musentöchter bereits aus einem Meer von schneeigen Obstblüten.
»Kinder, wollen wir hier nicht aussteigen? In Weimar müßten wir Station machen«, schlug Doktors impulsives Nesthäkchen lebhaft vor. »Es ist doch unerhört, daß man an der Goethestadt vorüberfährt.«
»Ausgeschlossen, Annemarie. Wir haben zu heute Abend in Stuttgart im Hotel Monopol Zimmer bestellt«, lehnte Marlene besonnen ab.
»Auf der Rückreise können wir ja in Weimar Aufenthalt nehmen«, tröstete Ilse.
»Menschenskind – auf der Rückreise – was kann in einem Jahr nicht alles sein!« Aber mit der ihr eigenen Liebenswürdigkeit gab Annemarie nach. Denn schließlich hatte Marlene ja recht.
Der Zug stieg bergan. Die Frühlingswelt wurde wieder winterlicher. Rauher wehte die Luft. Man näherte sich dem hochgelegenen, von Berliner Sommer- und Winterfrischlern viel besuchten Oberhof. Auch hier hätte Doktors Nesthäkchen, das alles sehen und genießen wollte, am liebsten Station gemacht. Aber der Zug entführte es weiter, immer weiter, talwärts zu Kirsch- und Fliederblüte.
Es wurde eine höchst fidele Fahrt. Zukunftspläne schmiedend, futternd und Studentenlieder singend, fuhren die drei Freundinnen ihrem Studienjahr entgegen. Annemaries ausgelassene Art steckte selbst die ruhige Marlene an. Das war ein Lachen, Scherzen und Singen zu den Klängen der Zupfgeige, die Nesthäkchen natürlich in die neue Heimat begleitete, daß die Mitreisenden ihre helle Freude an dem frischen, jungen Blut hatten. Bis auf eine etwas griesgrämige alte Dame, die fast während der ganzen Fahrt schlief. Oder vielmehr schlafen wollte, was ihr aber bei dem fidelen Kleeblatt nicht recht gelang.
So kam man in der sechsten Stunde nachmittags nach Würzburg.
»Würzburg soll die schönste Barockstadt sein, ähnlich wie Potsdam«, bemerkte Ilse, das Bauratstöchterlein.
»Müssen wir unbedingt sehen. Fahrtunterbrechung ist gestattet. Wir telefonieren dem Herrn Monopol in Stuttgart einfach ab.« Annemarie wieder Feuer und Flamme für die neue Idee.
»Dann haben wir keinen Tag mehr für Stuttgart. Das Semester beginnt doch schon in zwei Tagen«, widerlegte sie Ilse.
»Und an dem vorgenommenen Reiseprogramm hält man auch fest.« Bei Marlene mußte alles geordnet zugehen.
»Aber aussteigen muß ich, Kinderchen, ich verdurschte. Kein mitleidiger Pikkolo läßt sich mit Bier oder Limonade sehen. Ob ich mal ganz schnell zum Büfett dort drüben hinspringe und uns eine Brauselimonade hole? In zwei Minuten bin ich wieder da.« Annemarie war bereits an der Tür.
Die beiden Cousinen hielten sie ängstlich fest.
»Nicht doch, Annemarie, du könntest den Zug versäumen.«
»Es wird sicher noch jemand mit Getränken kommen.« Alle beide versuchten sie, Annemarie zurückzuhalten.
Aber wenn Doktors Nesthäkchen sich mal was in den Kopf gesetzt hatte, war es schwer, es vom Gegenteil zu überzeugen. Und außerdem quälte der Durst. »Was seid ihr für eine umständliche Gesellschaft – bis ihr mit eurer langatmigen Auseinandersetzung fertig seid, bin ich zehnmal wieder da – auf Wiedersehen – –.« Fort war sie.
»Sie brauchen keine Sorge zu haben, meine Damen, der Zug pflegt hier in Würzburg immer längeren Aufenthalt zu haben«, beruhigte ein Mitreisender die erschreckten Cousinen.
Am Büfett war es voll. Es dauerte lange, bis Annemarie, trotzdem sie ihre Ellenbogen zu brauchen verstand, die gewünschte Limonade erhielt. Für Flasche und Glas waren fünfzig Pfennige Pfand zu lassen. Trotz ihres großen Durstes lief die gutherzige Annemarie, ehe sie selbst trank, zum Zuge zurück, um die Freundinnen zuerst zu erquicken. Nach längerem Suchen fand sie ihr Abteil erst wieder, denn die Nummer desselben hatte sie sich in ihrer Huschligkeit nicht gemerkt.
»Steig' ein, Annemarie, der Zug kann abgehen«, drängte Marlene, sich kaum Zeit zum Trinken nehmend.
»Fällt mir nicht im Traume ein. Die Luft ist herrlich hier draußen. Kommt doch auch noch ein bißchen 'raus.«
»Nein, Annemarie, du weißt nicht, wie lange der Aufenthalt noch dauert. Bitte, steig' doch bloß ein«, versuchte auch Ilse sie zu überreden.
»Was seid ihr für nervöse junge Damen! Immer mit de Ruhe!« lachte Doktors Nesthäkchen ausgelassen und ließ sich die Limonade schmecken.
»Flink, Annemie, sieh nur, die andern Leute steigen alle schon ein.« Ilse war ganz aufgeregt.
Wirklich, der Bahnsteig leerte sich.
»Euer Wunsch ist mir Befehl. Ich will nur noch Flasche und Glas abgeben.«
»Ach, nimm sie doch mit, komm bloß schon!« Auch die ruhigere Marlene wurde durch Ilses Aufgeregtheit angesteckt.
»Ihr seid wohl 'n bißchen hops?« Annemarie tippte mit der Flasche gegen die Stirn. »Fünfzig Pfennige Pfand habe ich darauf zurückzubekommen. Die lasse ich auf keinen Fall schießen.« Allen Einwendungen der beiden ungeachtet, lief Annemarie noch einmal zum Büfett. Wieder eine Verzögerung – die Büfettdame hatte das Geld nicht gleich passend zur Hand. Aber Doktors Nesthäkchen blieb ganz sorglos.