Nesthäkchen fliegt aus dem Nest. Else Ury
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Nesthäkchen fliegt aus dem Nest - Else Ury страница 9
»Erscht nach linksch«, wiederholte Annemarie übermütig, »dann gradausch und dann wieder nach linksch«; sie sprach noch mehr »sch« als der biedere Schwabe.
Der Polizist hatte recht. Es war ein weiter Weg. Sie bekam einen guten Teil der Stadt dabei zu sehen. Die für alles Schöne leicht Begeisterte war entzückt von der anmutigen, in Weinberge eingeschmiegten Lage Stuttgarts. Vornehme Villenstraßen, gartenumkränzt, zogen sich rings zu den Höhen.
So – nun stand sie endlich, ziemlich erhitzt, vor dem großen Prachtbau des Hotels »Zontinen-Tal«.
Himmel – wie elegant! Hier sollten Marlene und Ilse abgestiegen sein? Eigentlich kaum denkbar. Annemarie mußte lächeln, wenn sie vergleichend an den »Bunten Hahn« zu Würzburg dachte.
Unverfroren, wie das ihre Art war, betrat sie das mit lichtblauen Plüschteppichen belegte Vestibül und fragte den livrierten Majordomus nach den Freundinnen. Die Namen wollten sich im Fremdenbuch nicht zeigen. Aber ein schönes Zimmer war gerade soeben frei geworden. Die Dame hätte heute Glück. Ein Zimmer mit Bad wär's.
Gewiß war das Zimmer sehr teuer. Und sicher hatten Marlene und Ilse für sie doch Unterkunft. Aber wo?
»Wenn das gnädige Fräulein noch kein Logis hat, wird es schwerlich ohne Vorherbestellung noch etwas finden«, meinte der Hausmeister. »Nur durch Zufall ist das eine Zimmer frei.«
»Was kostet es?« fragte Annemarie mit kühnem Entschluss.
»Fünfzehn Mark.«
»Wieviel?« Annemarie traute ihren Ohren nicht.
»Das ist nit zu viel für ein schönes Balkonzimmer mit Bad«, meinte der Geschäftsführer.
Fünfzehn Mark – das bedeutete einen großen Riß in ihre Kasse. Trotzdem nahm Annemarie das Zimmer. Sie mußte doch ein Nachtquartier haben, und von dem Umherirren hatte sie nun genug.
Ja, der hochelegant möblierte Raum sah freilich anders aus als das schmutzige Hofzimmer im »Bunten Hahn«. Statt der rotkarierten Bettüberzüge eine hellblauseidene Daunendecke – wie eine Prinzessin. Wenn Vater und Mutti wüßten, daß ihr Nesthäkchen in dem elegantesten Hotel gelandet war!
Zuerst stieg Annemarie in die Fluten der weißen Kachelwanne hinab, die im Nebenraum Erfrischung bot. Nicht nur der Erfrischung und Reinlichkeit wegen, sondern hauptsächlich, um die fünfzehn Mark abzuarbeiten.
Nun war es Zeit zum Mittagessen. Aber in dem vornehmen Hotel war es gewiß unerschwingbar. Wohin?
Sollte sie ..., nein, Herr Hartenstein hatte sie doch davor gewarnt. Ach was, billig war der »Elefant« bestimmt. Und sie mußte doch die fünfzehn Mark Nachtquartier wieder auf andere Weise wettmachen. Daß ein gut Teil Evasneugier auch dabei war, das Lokal, das Herr Hartenstein für junge Damen ungeeignet fand, kennenzulernen, mochte Annemarie sich nicht eingestehen.
Nach vielem Hin und Her hatte sie den »Elefanten« glücklich ausfindig gemacht. Es war recht voll in dem tabakverqualmten Raum. Vorwiegend Gäste der unteren Schichten. Arbeiter in blauen Blusen, Fuhrleute, Marktweiber. Lärmen und Lachen, Bierdunst und Pfeifenqualm. Keck nahm Doktors Nesthäkchen an einem der ungedeckten Tische Platz und bestellte wie einer ihrer nicht sehr salonfähigen Nachbarn »Erbswurscht mit Salat«. Die Kellnerin brachte gleich dazu einen großen Steinkrug mit Bier. Annemarie ließ es sich schmecken. Sie nahm weiter keinen Anstoß daran, daß ihre Tischgenossen zum Teil kragenlos waren und keine gepflegten Nägel hatten; und daß eine der Marktfrauen ihre blaugedruckte Schürze als Serviette und Taschentuch zugleich benutzte.
Nur die vielen erstaunten Blicke, die sie selbst streiften – denn oft mochte es wohl nicht vorkommen, daß eine gut angezogene junge Dame hier speiste, noch dazu eine, die im Hotel Continental wohnte –, waren ihr etwas lästig.
»So – die größte Sehenswürdigkeit von Stuttgart, den ›Elefant‹, hätten wir kennengelernt, und wundervoll billig war's obendrein!« Höchst befriedigt trat Doktors Nesthäkchen wieder auf die Straße.
Die Hoffnung, Marlene und Ilse irgendwo in dem Gewühl der Hauptstraße austauchen zu sehen, erfüllte sich nicht. Nun, schlimmstenfalls traf man sich in Tübingen wieder. Vielleicht auch schon im Zuge dorthin. Was mit dem Nachmittag anzufangen sei, machte Annemarie kein Kopfzerbrechen. Von Mitreisenden hatte sie gehört, daß die Aussicht auf Stuttgart von einer der Höhen, zu denen eine Zahnradbahn hinaufführte, am schönsten sei. Gesellschaft hätte die gesprächige Annemarie allerdings ganz gern bei diesem Ausflug gehabt. Wiederum aber war es ganz amüsant, so ganz frei und ungebunden auf eigene Faust loszumarschieren.
Annemarie war noch nie mit einer Bergbahn gefahren. Erstaunt betrachtete sie die kastenartigen Abteile, die in schräger Linie aufwärts stiegen, und nahm in einem derselben Platz. Die Bahn war ziemlich voll, denn ein Teil der Stuttgarter Bevölkerung hatte seine Villen oben auf den Höhen. Eine Dame, die hinter ihr saß, belästigte sie mit ihrem großen Hut.
Doktors Nesthäkchen stieß ärgerlich mit dem Rücken dagegen. Es nützte nichts. Solche Rücksichtslosigkeit – mochte sie doch ihren Hut abnehmen, wenn er so riesengroß war wie ein Wagenrad.
»Au!« machte Annemarie empört.
»Entschuldigen Sie bitte.« Der schüchterne, bescheidene Ton dieser Stimme ließ Annemarie jäh den Kopf wenden. Hellblonde Haare schauten unter dem großen Hut hervor und »Ilse!« – jubelnd umfing Nesthäkchen, unbekümmert um die übrigen Insassen, die »Rücksichtslose«.
»Haben wir dich endlich wieder – Gott sei Dank!« Das war ein Hinüber und Herüber von einem Kastenabteil zum andern, als ob sich Menschen, die jahrelang auf verschiedenen Erdteilen gelebt haben, unvermutet wieder treffen.
»Jetzt wirst du aber fest an die Leine genommen, daß du nicht wieder entlaufen kannst, Annemarie. Wir waren sehr in Sorge um dich.«
»Ja, Marlene hat sogar schon heiße Tränen um dich vergossen.«
»Ich bin eben kunstbegeisterter als ihr und wollte mir die berühmte Barockstadt Würzburg ansehen. Als Zugabe habe ich noch eine nette Bekanntschaft gemacht, durch die wir uns vielleicht auch in unserer neuen Heimat leichter einbürgern werden.«
»Junges Mädchen?«
»Nee – junger Herr.«
»Wa–as? Man braucht doch bloß den Rücken zu wenden, sobald unser Nesthäkchen allein ist, macht es Unfug«, neckte Ilse.
»Du, ich habe die Verantwortung für dich übernommen«, meinte Marlene halb ernst, halb scherzhaft.
»Dann wundere ich mich, daß du bei deiner großen Sorge um mich nicht heute morgen am Bahnhof warst, um mich in Empfang zu nehmen.«
»Ilse hielt es für ausgeschlossen, daß du Langschläferin den ersten Zug vor Tau und Tag benutzen könntest. Wir glaubten, du kämst erst mit dem Mittagszuge. Aber als du dich da auch noch nicht einfandest, machten wir uns ernsthaft Gedanken. Ich wollte schon an deine Eltern telegraphieren.«
»Na, das hätte noch gefehlt!«
»Warum bist du denn aber heute morgen nicht gleich ins Hotel Monopol gekommen, Annemarie?« forschte Ilse.
»Weil