Die Stille im Dorf. Karl Blaser
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Stille im Dorf - Karl Blaser страница 16
Sie huschte aus dem Laden. Der Jude drückte sein Gesicht gegen die Türscheibe, sah ihr nach, wie sie zurück zu den Marktständen floh. Über seinem Kopf prangte in Sütterlinschrift der Name: Jakob Rosenwasser.
Das Marktspektakel war zu Ende, ein Mann kehrte mit einem Besen aus Weidenzweigen den Unrat beiseite, nur Johann saß noch am Brunnen und spielte auf seiner Mundharmonika.
Anna wollte über den Marktplatz eilen, blieb aber stehen und lauschte der Melodie. Die Töne der Mundharmonika tanzten federleicht um den Brunnen, verfingen sich in ihrem Haar. Ihre Augen trafen die des Mundharmonikaspielers. Die abendliche Julisonne wärmte den Basalt und fiel weich auf sein Gesicht. Er lächelte sie an, und Anna trat, wie von einem Magneten angezogen, ein paar Schritte näher heran, näher auf den Mann zu, in den sie sich in diesem Augenblick unsterblich verliebte.
»Ich komme immer hierher, wenn Markt ist«, rief er ihr nach. Sie drehte sich mit rotheißen Wangen noch einmal um, bevor sie schleunigst das Weite suchte.
Die beiden hatten sich schon bald wiedergesehen. Anna war eine Woche drauf wiedergekommen. Die Wochen darauf hatte sie ebenfalls einen Vorwand gesucht, um in die Stadt zu radeln. Und dann wieder und wieder. Eines Tages hatte sie ihn mitgenommen aufs Dorf: wie einen ihrer Einkäufe aus Jakob Rosenwassers Kurzwarenladen. Was für ein Fehler! Was für ein fataler Irrtum!
Anna öffnet ihre Augen. Wie flugs ist die Zeit seitdem vergangen! Es kommt ihr vor, als sei es gestern gewesen. Bald darauf hatte es Namen wie Rosenwasser in der Stadt nicht mehr gegeben, auch Jakob hatte diese Stadt, hatte Deutschland verlassen müssen. Nicht etwa, weil er sich aus freien Stücken dazu entschlossen hatte. Nicht etwa, weil er es satthatte, in dieser kleinen Stadt hinter der Ladentheke zu stehen und Kurzwaren zu verkaufen. Den Grund seiner Abreise lieferte ein junger Mann namens Herschel Grynszpan. Am Morgen des 7. November 1938 war der Jude in der deutschen Botschaft in Paris erschienen, er hatte sich beim Amtsgehilfen gemeldet und einen der Legationssekretäre sprechen wollen. Man führte ihn zum Gesandten vom Rath, und der Eindringling hatte sofort, nachdem er in das Zimmer eingetreten war, zwei Schüsse auf den deutschen Gesandten abgefeuert, ohne dass sie vorher ein Wort miteinander gewechselt hatten. Sogleich hatte Herschel versucht, aus dem Gebäude zu flüchten, aber der Amtsgehilfe verständigte umgehend den französischen Polizeibeamten, der vor dem Botschaftsgebäude Wache schob. Der Attentäter wurde verhaftet, später ohne Prozess hingerichtet. Und der hinkende Doktor Goebbels hatte gleich mit der ersten Meldung über das Pariser Attentat am Tag darauf im »Völkischen Beobachter« gesagt, was die Juden jetzt zu erwarten hätten: Es sei klar, dass das deutsche Volk aus dieser Tat seine Folgerungen ziehen werde. Es sei ein unmöglicher Zustand, dass in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschten, Vergnügungsstätten bevölkerten und als »ausländische« Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einsteckten, während ihre Schmarotzer draußen zum Krieg gegen Deutschland aufforderten und deutsche Beamte niederschössen.
Zwei Tage später waren sie gekommen und hatten auch Jakobs Kurzwarenladen kurz und klein geschlagen, ihn getreten, angespuckt und gerufen: »Verschwinde Jude!« Anna hatte den Biber-Hut niemals getragen. Er war in jener Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Jakobs Laden verbrannt.
»Und was ist mit diesem Jakob passiert?«, will Margarete wissen.
»Wir haben im Dorf erst Tage später erfahren, was geschehen war. Da hatte Jakob Rosenwasser die Stadt schon lange Hals über Kopf verlassen. Es hieß, er sei mit nichts mehr als seinem nackten Leben auf dem Weg nach Amerika. Mathilde hat erzählt, dass er seine Haut gerade noch rechtzeitig hatte retten können. In New York habe er einen neuen Krämerladen aufgemacht.«
Margarete nimmt die Mutter zärtlich in die Arme.
»So war das damals«, sagt Anna verlegen. »So war das, mein Kind. Es war nicht alles schlecht. Ich war glücklich damals. Es ist ja noch gar nicht so lange her.«
Anna steht auf. Sie schaut nachdenklich aus dem Fenster.
»Wie es Micha wohl geht«, fragt sie. Sie schaut sich um und verlässt das Zimmer.
Margarete geht dieser Eifeljude Jakob tagelang nicht mehr aus dem Sinn. Ob er es wirklich bis nach Amerika geschafft hat? Bis nach New York? Da werden sich die jungen Frauen wohl nicht so zieren wie hier! In New York wird es sicher viele Fräuleins geben, die Hüte tragen, aus Samt und Seide oder gar aus feinem Biberhaar. So einen Hut möchte ich auch einmal tragen, denkt Margarete.
Ob sie es jemals bis nach New York schaffen wird?
6
Mitte März 1945
Anna steht vor ihrem Spiegel, alt das Gesicht, grau die Haare. Das erste Mal hat sie ein offenes Gespräch mit ihrer Tochter geführt. Sie erinnert sich an Jakob Rosenwasser. Der kleine Jude wollte, dass sie Hüte trägt. Er hatte gesagt, einen Hut müsse man so sorgsam auswählen wie einen Ehemann. Noch nie hat Anna einen Hut getragen, das einzige Mal war in Jakobs Krämerladen. Sie hatte gezögert, den Hut mitzunehmen, sich nicht getraut. Ihren Ehemann Johann dagegen hatte sie im Kopfstand ausgewählt und mit aufs Dorf genommen. Jakob sollte Recht behalten. Aber was Jakob nicht gesagt hatte: Ihren alten Hut weiß eine Frau leichter abzulegen als ihren alten Mann. Johann, der ihr damals auf dem Marktplatz mit seinem Mundharmonikaspiel den Kopf verdreht hatte, schläft nicht mehr bei ihr in derselben Kammer, er wärmt sich nicht mehr in ihrem Bett. Aber es ist ihr inzwischen völlig gleichgültig, wo er sich herumtreibt, sie könnte seine intime Nähe gar nicht mehr ertragen. Er soll sie nur in Ruhe lassen, sie nicht mehr anfassen und stattdessen andere Weiber begrapschen. Das ist es, was sie will: In Ruhe gelassen werden!
Anna schöpft Wasser in ihre hohlen Hände und lässt es vorsichtig auf ihr Gesicht tropfen. Langsam fließt es ihren Hals hinunter über ihre immer noch festen Brüste wie ein kleiner Bach. Sie verreibt es sanft zwischen den Fingern. Warum hat sie sich nur für Johann entschieden? Wie konnte sie sich von ihm blenden lassen und ihn aus der Stadt mitbringen wie einen Einkauf, über den man sich hinterher selbst wundert, wenn man ihn zu Hause aus der Tüte kramt? Er war ein absoluter Fehlgriff, dieser Johann, sie hätte wissen müssen, dass er fürs Dorf nicht taugt, dass er auf dem Land nicht glücklich werden würde. Anfangs hegte er vielleicht beste Absichten. Er gab sich durchaus Mühe, aber der beschwerliche Alltag auf dem Bauernhof hier in dieser ärmlichen Gegend erstickte rasch jede anfängliche Begeisterung in ihm. Hinter einem Ochsen und einem Pflug herzulaufen über steinige Felder, das war er schneller satt, als Anna lieb war, aber als sie es erkannte, als sie erwachte aus ihrem süßen Liebestraum, da war es zu spät, ihn wieder abzulegen wie einen gebrauchten Hut. Anna bekam seinen Unmut schnell zu spüren, und nur ein einziges Mal stellte sie ihn zur Rede.
»Wo bist du die Nacht gewesen?«
Johann griff nach der vollen Kaffeetasse, die vor ihm auf den Tisch stand, warf sie ihr an den Kopf. Und das war nicht die einzige Tasse, die durch die Küche flog.
»Das geht dich gar nichts an! Wag es nicht noch einmal, mir hinterherzuspionieren!«
Sie schwieg. Was hätte sie auch sagen können. Das erste Kind, ein kleiner Junge namens Michael, krabbelte vor ihr auf dem Boden, und das zweite Kind trug sie in ihrem Leib. Anna hoffte innig, dass es ein Mädchen würde, und als es geboren wurde, gaben sie ihm den Namen Margarete: Perle, Kind des Lichts. Was blieb Anna da anderes übrig, als zu schweigen. Zu ihrem größten Überdruss musste sie dann zusehen, wie